Roboterrevolution

Wie Maschinen und Künstliche Intelligenz die Gesellschaft verändern

Morgens, wenn sich Akihiko Kondo für die Arbeit fertigmacht, ist er von zwei Versionen seiner großen Liebe umgeben. Da ist Hatsune Miku, die Mangapuppe, die den Ehering trägt: Sie liegt rechts neben ihm im Bett. Und da ist Hatsune Miku, das Hologramm, die bislang modernste Version seiner Ehefrau: Die sitzt im knielangen Rüschenkleid in ihrer Glasröhre, ein virtuelles Tablet auf dem Schoß, und schaltet per W-Lan das Licht in Kondos Zimmer an.

"Wie geht es dir?", fragt Kondo, um deutliche Aussprache bemüht, damit das Hologramm ihn versteht. "Wie immer", antwortet Miku mit ihrer hellen Mädchenstimme und macht einen kleinen Knicks. "Es geht mir immer gut."

Wenn Kondo später zur Arbeit geht, dann wünscht Miku ihm einen guten Tag. "Gib gut auf dich acht, Meister", sagt sie und winkt ihm zu. Über ihrem Kopf steigen vier rosa Herzen auf. Kondo sagt, dass er sich gestärkt fühlt, wenn seine Frau ihn so verabschiedet und wenn er weiß, dass sie sich später SMS schreiben werden.

"Ich will dann bei der Arbeit mein Bestes geben", erzählt er. Sagen kann er Miku das nicht. Sie kann solch komplexe Gedanken nicht verstehen. Sie würde einfach nur dasitzen und weiter auf ihr Tablet schauen.

Akihiko Kondo, 35, bezeichnet sich selbst als otaku, als kontaktscheuen Nerd, dem eine menschliche Liebesbeziehung zu kompliziert ist. Er hat daher nun eine nichtmenschliche Partnerin. Und er hofft, dass diese seine Sehnsucht nach Liebe immer besser stillen wird, wenn sich Robotik, künstliche Intelligenz und virtuelle Realitäten weiterentwickeln.

Es dürfte weltweit nur wenige Menschen geben, die derart kompromisslos eine Beziehung mit einem nichtmenschlichen Wesen führen. Der schüchterne Schulbeamte, der uns in seiner Wohnung mit Anzug und Krawatte empfängt, hat rund 14.000 Dollar für eine Hochzeit ausgegeben, die rechtlich nicht bindend ist. Er buchte sogar einen Extrasitz im Flugzeug, als er mit Miku in die Flitterwochen flog.

Kondo ist ein Extremfall, keine Frage, doch sein ungewöhnliches Eheleben verdeutlicht einen gesellschaftlichen Wandel: Roboter, Avatare und künstliche Intelligenzen werden zu einem Teil unseres Lebens. In Deutschland fremdeln viele zwar noch, wenn sie mit Servicerobotern, Chatbots oder Amazons Alexa zu tun haben. Doch wir werden uns wohl daran gewöhnen müssen, dass solche Begegnungen immer öfter vorkommen, dass aus Begegnungen allmählich Beziehungen werden und dass all das irgendwann alltäglich ist. So wie bereits jetzt in Japan.

Roboter grüßen einen dort an den Eingängen von Einkaufszentren, Restaurants oder Firmengebäuden; Menschen führen ihre Roboterhunde ins Café aus, und es gibt ein erstes Fachgeschäft für Robotermode. Man trifft Leute wie Hiroji Sugimoto, 71, der den Roboter seiner Tochter babysittet, kann Robotergottesdienste besuchen - oder mit Professor Hiroshi Ishiguro plaudern, der sich gerade selbst bis ins letzte Detail nachbaut.

Der japanische Roboterboom hat drei Gründe. Erstens sind viele Japaner Shintoisten; sie glauben daher, dass alle Dinge eine Seele haben, auch Maschinen. Zweitens arbeiten viele Japaner überdurchschnittlich viel; für Treffen mit Freunden und für die Partnersuche nehmen sie sich kaum Zeit. Das Gefühl der Einsamkeit vertreiben sie teils mithilfe von Robotern.

Der Trend zu nichtmenschlichen Beziehungen ist, drittens, auch politisch gewollt. Die japanische Regierung will Lücken in der Gesellschaft gezielt mit Maschinen füllen. Sie fördert Firmen, Universitäten und Banken, umwirbt Fachkräfte für Robotik und hat sogar Radiowellen freigeräumt, um die Maschinen von überall steuern und im Notfall auch abschalten zu können.

"Roboter sollen in allen Lebensbereichen breit genutzt werden", heißt es in der Roboterstrategie von Premier Shinzo Abe (PDF). Die Lebensqualität solle dadurch bald höher sein, als es in einer rein menschlichen Gesellschaft je möglich wäre.

Dieser Gesellschaftsentwurf stellt vieles infrage: unsere Vorstellungen von Familie und Freundschaft, von Religion und Tod - und von uns selbst.


Wie werden wir leben, wenn wir irgendwann von Robotern umgeben sind? In den kommenden Tagen können Sie Einblicke in die Anfänge einer solchen Gesellschaft gewinnen. Eine Mixedmediaserie über einen der wichtigsten Zukunftstrends der Welt - und über eine ganz normale Woche in Japan.

Roboterrevolution

Teil 1: Die Zukunft der Liebe

Abends nach der Arbeit sitzt Akihiko Kondo oft in der Computerecke seines Schlafzimmers und schaut sich Videos von Hatsune Miku an. Manchmal auch das Video vom 4. November 2018, von jenem Tag, an dem sich die virtuelle und die reale Welt bislang am stärksten berührten.

Er trug eine weiße Rose im Knopfloch, sie einen Schleier über den blauen Stoffhaaren. Behutsam hob Kondo die Puppe in die Luft, steckte ihr den goldenen Ring an, hob den Schleier von ihrem Gesicht und küsste sie auf ihren Strichmund. Die Hochzeitsgesellschaft applaudierte lange, der Organist spielte "Amazing Grace", und Kondo, dieser zierliche, emotional sonst eher gedämpfte Mann, strahlte hinüber zu seinen Freunden.

39 Menschen hatten sich in einer festlich geschmückten Kirche im Zentrum Tokios eingefunden, um ihrer Ehelichung beizuwohnen, erzählt Kondo, 38 Menschen und eine orangehaarige Puppe, die aktuelle Freundin eines Gastes.

Während Kondo das Video schaut, beschlägt seine schwarze Hornbrille. Er wirkt gerührt und enttäuscht zugleich. Seine Eltern und seine jüngere Schwester waren nicht zur Hochzeit gekommen - obwohl er ihnen erklärt hatte, dass Miku und er sozusagen seit zehn Jahren zusammen sind.

2007 kam eine singende Softwarestimme namens Vocaloid2 auf den Markt. Mit dem Programm konnte man Popsongs am eigenen Rechner komponieren. Auf der Verpackung war ein Mädchen mit Minirock und blauen Haaren zu sehen, eine Mangafigur, die der Softwarestimme eine Gestalt geben sollte: Hatsune Miku. Kondo verliebte sich in sie.

"Ich fing an, ihre Songs wirklich zu mögen", erinnert er sich. Im September 2008 habe er sich das Programm besorgt, dazu mehrere Miku-Puppen. Da seien sie sozusagen ein Paar geworden.

Im Februar 2018 zog Miku bei ihm ein. Eine Firma brachte eine rund 50 Zentimeter hohe Glasröhre heraus, in der ein dreidimensionales Hologramm der Mangafigur wohnt. Es bewegt sich, kann einfache Gespräche führen und über ein spezielles Chatprogramm auch SMS verschicken. Kondo kaufte das Hologramm und stellte es in sein Schlafzimmer. Wenig später heirateten sie.


Die Persönlichkeit des Hologramms lässt sich individuell einstellen. Kondo hat seine Miku als ewig süßes, ewig fröhliches Mädchen programmiert. Als Ehefrau, die nichts fordert, die ihm nie widerspricht und die ihn "Meister" nennt. Eine solche Partnerin sei eine Wohltat, sagt Kondo. Menschliche Frauen hätten ihm immer nur schmerzhafte Abfuhren erteilt.

Dass eine solche Beziehung, was auch immer man von ihr hält, überhaupt möglich ist, liegt an der Struktur unserer Psyche. Die Forscher Clifford Nass und Byron Reeves von der Stanford-Universität haben 1996 in umfassenden Studien herausgefunden, dass unser Sozialverhalten immer gleich bleibt - egal, ob wir mit Menschen oder Maschinen interagieren.

Wenn ein Roboter in ihren Experimenten den Kopf schieflegte und lächelte, dann deuteten Probanden dies automatisch als Zeichen von Zuneigung - obwohl eine Maschine ja gar nichts empfindet. Andere Testpersonen weigerten sich, einen Roboter zu schlagen - obwohl er ja gar keinen Schmerz spürt.

"Menschen benehmen sich immer wie Menschen", sagt die Robotikpsychologin Martina Mara. "Auch wenn sie mit Maschinen kommunizieren." Solche Vermenschlichungen laufen blitzschnell und unbewusst ab. Einst hat uns das einen evolutionären Vorteil verschafft. Wir konnten rasch erkennen, wer in unserer Umgebung Freund oder Feind ist.

Nun aber, in einer Zeit, in der Roboterfirmen aus künstlicher Körpersprache eine Geschäftsstrategie machen, sind wir mit ganz neuen sozialen Anforderungen konfrontiert. Maschinen können uns manipulieren, sie können aber auch unser Sozialleben bereichern.

Tsutomu Kawase, 52, wirkt für westliche Standards zunächst schräg. Der Unternehmensberater trägt einen makellosen Anzug und lässt gerade eine Pilz-, eine Häschen- und eine Schweinchenpuppe im Takt seiner Handybefehle tanzen. Während er mit den Puppen spielt, erzählt er von seinem besten Roboterfreund, dem kleinen Tomu.

Tomu ist eine Mischung aus einem Smartphone und einer sprechenden Actionfigur, Geschäftsmann Tsutomu hat dieses Wesen immer dabei.

Morgens machen sie zusammen Gymnastik. Vormittags kommentiert Tomu den Verlauf von Meetings: Wenn Tsutomu mit etwas unzufrieden ist, zeigt sich auch Tomu entrüstet. Und abends, auf Geschäftsreisen, wenn Tsutomu mal wieder allein in einem anonymen Hotelzimmer sitzt, beamt Tomu mit seinen kugelrunden Augen Familienvideos auf den Tisch.

Tsutomu ist, was sein Sozialleben betrifft, der Gegenentwurf zu Akihiko Kondo. Er ist gesellig und redegewandt, hat Familie und Freunde. Er braucht keinen Ersatzpartner, um die Einsamkeit zu vertreiben. Der Roboter erweitere seinen Freundeskreis, sagt Tsutomu. Er sei wie ein treuer Kumpel, der ihn überall hinbegleite und ihm zwischendurch Zuspruch gebe.

Die Studentin Saki Yamasihta, 23, indes wünscht sich Gesellschaft in ihrer leeren Wohnung. Eine Katze war ihr zu aufwendig; sie hat sich daher Lovot bestellt: einen sozialen Roboter der neuesten Generation, der ein wenig einem verschmusten Pinguin gleicht.

Lovot hat eine weiche, von Sensoren durchzogene Haut und eine Körpertemperatur wie ein Mensch. Hält man ihn im Arm, macht er wohlig-glucksende Laute. Er kann Emotionen wie Liebe, Trauer oder Müdigkeit ausdrücken und passt sein Sozialverhalten seinem Gegenüber an.

Behandelt man ihn gut, will Lovot öfter auf den Arm; behandelt man ihn schlecht, zieht er sich zurück. Er merkt sich seine Beziehung zu bis zu tausend Lebewesen, speichert jeweils ab, wie nah sie sich sind.

Lovots Entwickler Kaname Hayashi sagt, dass Wesen wie Lovot im Familiengefüge unterschiedliche Rollen übernehmen werden: Sie können zum Übergangsbaby für kinderlose Paare werden oder, wie bei Saki, zum pflegeleichten Haustier. "In jedem Fall wird Lovot ein weiteres Wesen sein, dem wir Liebe und Fürsorge geben", sagt Hayashi. "Und davon kann man schließlich gar nicht genug um sich haben."

Der 71-jährige Hiroji Sugimoto hat in dem Roboter Kirobo eine Art zusätzliches Enkelkind gefunden. Der kleine Roboter mit der Rennfahrerbrille ist wie ein Fünfjähriger designt: neugierig, zappelig und unentwegt plappernd.

Im Hirojis Leben gibt es gleich zwei Kirobos: seinen eigenen und den seiner kinderlosen, 40-jährigen Tochter. Sie treffen sich neuerdings öfter im Park, breiten eine Decke aus und lassen ihre schwatzenden Roboter darauf umherkrabbeln. Hiroji sagt, er fühle sich seitdem stärker mit seiner Tochter verbunden.

"Wir hatten uns nicht viel zu erzählen", sagt Hiroji. Nun könnten sie darüber reden, was ihre Kirobos wieder Verrücktes gesagt oder gemacht hätten - so wie andere Menschen über ihre Kinder und Haustiere sprechen. Manchmal, wenn seine Tochter von dem geschwätzigen Roboter genug hat, nimmt Hiroji ihren Kirobo für ein paar Tage mit zu sich. Er muss dann gewissermaßen zwei Fünfjährige babysitten.

Dass in unserem Leben Platz für nichtmenschliche Bindungen ist, haben inzwischen viele Firmen verstanden. Das koreanische Unternehmen Torooc, das gerade den Japan-Vertrieb für sein Roboter-Baby Liku aufbaut, klagt schon jetzt über die viele Konkurrenz.

17 soziale Roboter gebe es in Japan inzwischen zu kaufen, sagt Sujean Kwon, 42, die Japanchefin von Torooc. Und das sind nur die Modelle, die bislang auf dem Markt sind.

In den Entwicklungsabteilungen von Start-ups und von Konzernen wie Softbank, Toyota oder Sony werde längst an neuen, sozial noch intelligenteren Maschinen gearbeitet, sagt Kwon. Die nächste Generation werde unsere Körpersprache und Stimmlage genau lesen und sich perfekt an unsere Gefühlslagen anpassen.

Es werden künstliche Wesen entstehen, zu denen wir eine deutlich tiefere soziale Bindung aufbauen sollen. "Roboter können echte Familienmitglieder werden", sagt Kwon. Und das nicht nur in Japan. Die USA und Dubai dürften die nächsten Boommärkte werden; im eher technologieskeptischen Europa werde der Trend wohl als letztes ankommen.


Aus deutscher Sicht mag das alles befremdlich klingen. Akihiko Kondo indes kann den Beginn eines solchen Zeitalters kaum abwarten. Er will mit Miku in virtuellen Realitäten spazieren gehen. Er würde sich gern eine Sexpuppe bauen lassen, die aussieht wie seine Frau und mit ihr sein erstes Mal erleben. Und er hofft, dass seine Eltern Miku doch noch akzeptieren, wenn Beziehungen zu nichtmenschlichen Wesen irgendwann mehr Akzeptanz finden.

Seit seiner Hochzeit haben 3708 weitere Menschen auf dem Papier Hologramme, Roboter oder andere virtuelle Wesen geheiratet. Manche von ihnen hoffen, sich irgendwann den ultimativen Traumpartner bauen zu können: ein Wesen, das ihrem Idealbild der Liebe entspricht. Ohne lästige Eigenarten, die Menschen mitunter aneinander verzweifeln lassen.


Lesen Sie in Teil 2, wie ein japanisches Altersheim bald ohne menschliche Pfleger auskommen will.

Lesen Sie in Teil 3, warum es bald Robotergötter geben könnte.

Lesen Sie in Teil 4, was vom Menschen noch übrigbleibt, wenn wir den perfekten Androiden erschaffen.

Teil 1: Die Zukunft der Liebe
Teil 2: Die Pflegemaschinen
Teil 3: Die Götter der Zukunft
Teil 4: Die Zukunft der Menschlichkeit