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Die grüne
Welt­revolu­tion

Die fossile Ära, die lange das globale Machtgefüge prägte, geht zu Ende. Staaten, die auf grüne Technologien setzen, gewinnen deutlich an Einfluss. Ein Ausblick auf die Weltwirtschaft und Weltpolitik von morgen.

von Stefan Schultz

Das Klimapaket der Bundesregierung ist weit hinter den Erwartungen von Forschern und Umweltökonomen zurückgeblieben. Zu groß ist offenbar die Sorge, althergebrachte Wirtschaftszweige zu beschädigen, die gesellschaftliche Spaltung zu vergrößern, der AfD neue Wähler in die Arme zu treiben.


Dabei wird das Tempo, in dem die Bundesrepublik ergrünt, ein immer wichtigerer Faktor dafür, wie viel Gewicht sie künftig noch in der Welt hat.


Experten beschäftigen sich zusehends mit der Frage, wie sich die Machtverhältnisse zwischen Staaten verändern werden, wenn die Weltwirtschaft CO2-ärmer und irgendwann CO2-neutral wird. Die Organisation IRENA hat die bislang umfassendste Analyse dazu vorgelegt. Eine hochrangige IRENA-Kommission, der Ex-Außenminister Joschka Fischer, Ex-WTO-Chef Pascal Lamy sowie Forscher und Minister aus aller Welt angehören, sagt eine Epochenwende voraus.


Die Ära von Öl und Erdgas, die mehr als 100 Jahre Politik und Wirtschaft entscheidend beeinflusste, endet demnach gerade; und mit ihr enden die typischen Risiken des fossilen Zeitalters: Ölpreisschocks wie aktuell nach dem Angriff auf saudi-arabische Förderanlagen, Gasstreits zwischen Russland und der Ukraine - oder das sicherheitspolitische Gerangel um die Straße von Hormus.


Die Macht der Petrostaaten, die Kriege um Öl und Gas: All das wird sich abschwächen, unbedeutender werden, irgendwann ganz verschwinden und einer neuen Weltordnung weichen, in der Ökostrom und Wasserstoff dominieren. Eine Ära, in der sich manche Krisen auflösen werden, in der aber auch neue Konflikte entstehen werden.


Die IRENA-Kommission sieht deutliche Anzeichen, dass diese grüne Weltrevolution längst begonnen hat.

Die Kosten für green tech fallen schon jetzt rasant, dank Skaleneffekten und immer neuer technologischer Innovationen. Solaranlagen sind im vergangenen Jahrzehnt im Schnitt um 88 Prozent günstiger geworden, Windkraftanlagen um 69 Prozent.


Investoren ziehen viele Milliarden Euro aus Branchen ab, die auf fossilen Energien basieren. Sie investieren stattdessen in erneuerbare Energien.

Immer mehr Staaten setzen sich Ausbauziele für erneuerbare Energien.

Die Klimaproteste in vielen westlichen Ländern nehmen zu. Der öffentliche Druck auf Regierungen, CO2-Emissionen zu mindern, wächst.

Die IRENA-Experten sind mit ihrer Einschätzung nicht allein. Selbst Vertreter von Ölkonzernen sind der Meinung, dass sich die Energiewelt gerade grundlegend wandelt und ihr eigenes Geschäftsmodell immer weniger funktionieren wird.


Laut einer Prognose des Energiemultis Shell wird die Bedeutung fossiler Energien ab 2020 rapide fallen. Der Ausbau der erneuerbaren Energien dagegen werde rasch zunehmen. Um 2050 herum werden sie insgesamt mehr Energie liefern als Kohle, Öl und Gas.




Weltenergiebedarf




Der Wandel, den die Energiewelt durchläuft, lässt sich in drei wesentliche Entwicklungslinien unterteilen, die sich wechselseitig beeinflussen und verstärken.



1. Die globale Abhängigkeit von Öl, Gas und Kohle sinkt.

Ein zentraler Vorteil der erneuerbaren Energien ist ihre nahezu universelle Verfügbarkeit. Fast jeder Staat der Erde verfügt über wind- oder sonnenreiche Regionen, gute Standorte für Wasser-, Gezeiten- oder Geothermiekraftwerke oder hat Platz für den Anbau von Biomasse. Fast jedes Land kann folglich seinen eigenen Ökostrom produzieren. Dank anderer grüner Technologien wie Solarthermie oder E-Mobilität werden zudem auch der Wärme- und Mobilitätsbereich elektrifiziert.


Nach Berechnungen der Stanford-Universität könnten sich alle Länder, für die öffentliche Energiedaten vorliegen, komplett selbst mit Ökostrom versorgen. Wie viel dieses Potenzials einzelne Staaten letztlich nutzen, hängt von vielen Faktoren ab - zum Beispiel vom politischen Willen, der Wirtschaftlichkeit einzelner Standorte und der technischen Entwicklung.




Solarpotenzial pro Tag




Doch selbst wenn die Staaten der Welt nur einen Teil ihrer Möglichkeiten ausschöpfen: Die Abhängigkeit von Öl- und Gaslieferungen dürfte in jedem Fall signifikant zurückgehen.



2. Handelsrouten für fossile Rohstoffe werden unwichtiger

Ökostrom kann nicht nur fast überall auf der Welt produziert werden - er kann dank weitverzweigter Stromnetze auch auf vielen Wegen vom Erzeuger zum Kunden gelangen.

Je stärker die globale Produktion von Ökostrom steigt, desto unbedeutender werden zentrale Handelsrouten für Öl und Gas - und damit deren Erpressungspotenzial.


Die Straße von Hormus, durch die rund ein Drittel der globalen Öllieferungen hindurchmüssen, würde zum Beispiel unwichtiger. Ebenso die Gaspipelines der Ukraine, über die rund die Hälfte der russischen Gaslieferungen nach Europa und in die Türkei gelangen.



3. Gewaltige Geldströme werden umgeleitet.

Die globale Jahresproduktion von Rohöl war 2018 rund 2,3 Billionen Dollar wert. Sollten Handelsvolumen und Preise für diese Rohstoffe irgendwann sinken, würden gewaltige Geldströme umgelenkt: Kapital dürfte raus aus fossilen Energien fließen - und hinein in die Forschung, Entwicklung und in den Ausbau grüner Energien. Das hätte Auswirkungen auf die Haushalte, Handelsbilanzen und industriellen Strukturen vieler Staaten.




Import-Export-Saldo einzelner Staaten beim Rohöl




Am Ende der Entwicklung entlang dieser drei Linien dürfte ein komplett neues Energiesystem stehen. Auf die Hegemonie der Petro- und Gasnationen wird nach Einschätzung der IRENA-Experten ein eher heterarchisches Versorgungssystem folgen: ein Gefüge mit vielen Produzenten, Transportwegen und breit gestreutem Kapital. Es dürfte flexibler und weniger monopolanfällig als das aktuelle System sein und die sogenannte balance of power, das Machtverhältnis der Staaten, spürbar verändern.

Gewinner und Verlierer

„Staaten, die nicht voll auf grüne Technologien setzen, werden im globalen Wettbewerb zurückfallen“, sagt Christian Breyer von der finnischen Lappeenranta-Universität. Länder, die früh in Forschung, Fertigung und Vertrieb erneuerbarer Exportgüter investieren, haben dagegen gute Chancen, ihren globalen Einfluss zu steigern.


Wie stark einzelne Staaten vom Wandel profitieren oder an ihm Schaden nehmen, hängt von vielen Faktoren ab. Es lässt sich aber zumindest grob abschätzen, welche Länder potenziell am stärksten betroffen sind.




Verlierer

Volkswirtschaften sind unterschiedlich stark auf den Export von Kohle, Öl und Gas angewiesen. In Ländern wie Libyen, Kuwait, Irak, Saudi-Arabien oder dem Kongo machen die Einnahmen daraus bis zu 40 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) aus.




Einnahmen in Prozent des BIP




Schrumpfen die Gewinne aus fossilen Exporten, ist das auch innenpolitisch relevant. Denn die betroffenen Regierungen finanzieren aus diesen Einnahmen oft weitreichende Geschenke an die Bevölkerung und erkaufen sich so deren Loyalität. Ein Ausfall dieser Einnahmen könnte zu zivilen Unruhen führen.


Je höher das Pro-Kopf-Einkommen eines Staats ist und je größer seine finanziellen Reserven sind, desto besser stehen seine Chancen, die negativen Folgen des Wandels abzufedern. Die schlechtesten Voraussetzungen haben laut einer Untersuchung der IRENA-Kommission Libyen, Angola, der Kongo, Osttimor und Südsudan.


Der außenpolitische Einfluss einer Nation wird ebenfalls zum Teil durch fossile Rohstoffe bestimmt: Vor allem der Anteil am globalen Öl- oder Gasmarkt spielt hier eine Rolle - wobei der Anteil umso stabiler bleiben dürfte, je geringer die Förder- und Produktionskosten des Rohstoffs sind. Staaten mit geringen Produktionskosten haben sogar die Chance, bei sinkender Nachfrage zunächst Marktanteile zu gewinnen. Langfristig dürften aber auch sie an Einfluss verlieren.




Anteile am Weltölmarkt




Ein weiterer außenpolitischer Machthebel ist der Zugriff auf wichtige Handelsrouten. Folgende Karte zeigt exemplarisch, welche Staaten momentan Teile des globalen Ölhandels lahmlegen können. Mit einem wachsenden Ausbau erneuerbarer Energien dürfte dieses Druckmittel zusehends an Wert verlieren.




Verschifftes Öl in Barrel pro Tag









Gewinner

Importeure fossiler Energieträger profitieren mehrfach von der globalen Energiewende. Wenn immer mehr Länder erneuerbare Energien produzieren, dann erhöht das, erstens, die Versorgungssicherheit.




Ökostromanteil am Primärenergieverbrauch




Die Importeure können, zweitens, ihre Energiekosten senken. Denn sie müssen insgesamt weniger Rohstoffe einkaufen, wenn sie selbst mehr Ökostrom produzieren. Und die Energie, die sie noch importieren, wird obendrein günstiger: Laut einer Studie der Lappeenranta-Universität dürften die Energiekosten der EU-Länder um bis zu zehn Prozent fallen, sobald sie hauptsächlich Ökostrom aus Nachbarstaaten beziehen und kaum noch Öl, Gas oder Kohle vom Weltmarkt. Voraussetzung dafür wäre ein EU-weites, intelligentes Stromnetz.


Staaten, die sich umstellen, erschließen sich, drittens, neue Einnahmequellen: Es winken Milliardengewinne aus dem Verkauf von grünem Strom, von Ökostromanlagen oder der dafür nötigen Komponenten und Dienstleistungen. Länder wie China, Japan oder Deutschland nehmen mit entsprechenden Wertschöpfungsketten schon jetzt Milliarden ein.




Wertschöpfung aus grüner Technologie in Mrd. Dollar

Die Welt von morgen

Die globale Energiewende beeinflusst nicht nur die wirtschaftliche und politische Stärke einzelner Staaten; sie verändert auch die Welt als Ganzes. Und zwar gleichzeitig zum Guten wie zum Schlechten. Die IRENA-Kommission sagt vor allem in drei Bereichen große Effekte voraus.

Sicherheitspolitik

Machtkämpfe um große Ölfelder - wie Anfang der Nullerjahre im Irak - oder um neuralgische Handelsrouten dürften nachlassen. Gleichzeitig könnten neue Konfliktfelder entstehen:


  • Sinkende Einnahmen aus fossilen Exporten dürften manche Gas- und Petrostaaten destabilisieren. Die Konflikte, die daraus entstehen, können sich leicht zu regionalen Flächenbränden ausweiten.
  • Es drohen Machtkämpfe um seltene Rohstoffe zur Herstellung von grünen Technologien - sofern Staaten nicht in bessere Recyclingverfahren investieren oder Produktionsprozesse entwickeln, die manche begehrte Rohstoffe weitgehend überflüssig machen.
  • Der Wettkampf um die Vormachstellung bei grünen Technologien dürfte neue Arten von Zoll- und Handelskonflikten provozieren. Diskussionen über Strafzölle für erneuerbare Energien oder Komponenten entsprechender Anlagen könnten deutlich zunehmen.
  • Smart Grids - also Technologien, die die Übertragung von Strom und Daten miteinander koppeln - werden zu hochkritischer Infrastruktur. Angriffe auf sie dürften in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen.

Bündnispolitik

Eine Weltwirtschaft, die weitgehend ohne Öl und Gas auskommt, würde auch die Bündnisse zwischen Staaten verändern. Das Opec-Kartell der wichtigsten Ölproduzenten könnte sich auflösen. Auch Allianzen von Abnehmerländern, die nahtlose Öl- und Gaslieferungen sicherstellen sollen, werden unwichtiger.


Gleichzeitig könnten neue Bündnisse entstehen - zum Beispiel regionale Stromverbünde, die eine möglichst flexible Versorgung mit grüner Energie gewährleisten. Institutionen wie die Internationale Solarallianz, die Installationen von Fotovoltaikanlagen weltweit beschleunigen soll, könnten zu neuen Machtzentren werden.

Finanzsystem

An den globalen Finanzmärkten könnte die Energiewende zu Turbulenzen führen. Im Zuge der sogenannten Divestment-Bewegung haben bereits jetzt mehr als 1100 Institutionen rund elf Billionen Dollar aus großen Öl-, Gas und Kohlekonzernen abgezogen. Weitere Umschichtungen dürften folgen. Anlegern, die zu lange auf fossile Technologien oder mit ihnen verbundenen Branchen setzen, drohen hohe Abschreibungen auf ihre Papiere.

Fazit

Der weltweite Wandel zu einer immer grüneren Energieversorgung hat gewaltige Effekte auf die Weltwirtschaft und die internationale Politik. Ob die positiven oder negativen Folgen überwiegen, hängt vor allem davon ab, wie kompetent der Übergang von der fossilen zur erneuerbaren Ära gemanagt wird.




Eine zu schnelle globale Abkehr von Öl und Gas kann neue regionale Konfliktherde entzünden. Eine zu langsame globale Energiewende indes kann aufgrund der verheerenden Folgen der Erderhitzung ebenfalls neue Krisen entfachen.


Unterm Strich wird es darum gehen, den Wandel auf möglichst vielen Ebenen gut ausbalanciert zu gestalten. Das gilt sowohl für einzelne Staaten und Konzerne als auch für staatenübergreifende Bündnisse. Die bisherigen Gestaltungsversuche machen allerdings nur bedingt Hoffnung, dass dies gelingt.


Viele Petrostaaten im Nahen Osten haben zwar Programme gestartet, um ihre Volkswirtschaften fit fürs postfossile Zeitalter zu machen; doch wirken diese in punkto Tempo und Strategie meist noch recht unausgereift. In der EU geht die Energiewende bislang ebenfalls weit langsamer voran als geplant.


Auch die Bundesregierung geht den Wandel bislang nur halbherzig an. Im Autosektor zum Beispiel scheint sie bislang eher die Industrie der alten Welt zu schützen, statt die neue konsequent zu fördern.


Insgesamt wirkt es so, als würde der Übergang in die neue Energiewelt derzeit planlos gestaltet. Gut möglich, dass sich das noch ändert, wenn der Leidensdruck durch die Folgen der Erderhitzung erst größer wird. Konzerne und Anleger, Staaten und Staatenbündnisse werden sich dann wohl genauere Gedanken machen, in was für einer Welt sie künftig leben wollen.

TEAM


Autor: Stefan Schultz

Redaktion: Yasmin el-Sharif

Grafiken: Marcel Pauly, Stefan Schultz, Achim Tack

Programmierung: Chris Kurt, Max Heber

Erschienen am 28.09.2019



Bilder: AFP, AP, dpa, Reuters