Das dunkle System

Teil 4: Traumata

OHNMACHT

Huang Guoyu wringt ihr langes schwarzes Haar über einer kleinen Schüssel aus. Neben ihr liegen Salatblätter auf einer Anrichte. Hinter ihr ist ein Hockklo im Boden. Über ihr hängt Wäsche. Huang trocknet sich kurz ab, dann bereitet sie in der provisorischen Koch- und Waschnische das Abendessen zu.

Im Flur des Ladens hat Li eine hölzerne Zwischendecke eingezogen. Eine Leiter führt empor zu einem rund zwei mal zwei Meter großen Matratzenlager, auf dem mehrere Bettdecken und Kissen liegen. Eine der Decken ist mit Comicfiguren bedruckt, ein Kissen mit einem Schweinchenmotiv. Es riecht nach Harn und Schweiß.


Li und Huang teilen sich dieses Lager seit Monaten mit den Kindern. Lis Vater schläft vorne im Laden auf einem Klappbett. Die Kinder fragen oft, wann sie endlich wieder ein eigenes Zimmer bekommen. Li weiß darauf keine Antwort. Die Entschädigung für ihr altes Haus ist zu gering, um eine neue Wohnung zu kaufen. Seit seiner Entlassung aus dem Straflager versucht Li, vor Gericht mehr Geld zu erstreiten. Bislang ohne Erfolg.

Das Abendessen nimmt die Familie in der Werkstatt ein. Sie holen ein paar Plastikhocker, bilden zwischen Kabeln, Platinen und den Bildröhren kaputter Fernseher einen Kreis und teilen sich gekochten Reis, gebratenes Gemüse und ein paar Mandarinen.

Am Tag nach seiner Entlassung hat Li den Laden sofort wieder geöffnet. Er wollte rasch neues Geld verdienen. Doch es dauerte lange, bis das Geschäft wieder einigermaßen lief. Li war jetzt ein Ex-Sträfling. Einer, mit dem viele Kunden nichts zu tun haben wollten.


In einer Ecke der Werkstatt steht ein abschließbarer Metallschrank, Li bewahrt darin seine Gerichtspapiere auf. Der Aktenstapel ist rund dreißig Zentimeter hoch und gut fünf Kilo schwer.

Neben einer höheren Entschädigung für sein Haus fordert Li auch eine Bestätigung, dass er zu Unrecht ins Straflager gesperrt wurde. Er hat einen Brief an den damals amtierenden Präsidenten Hu Jintao geschrieben. Eine Antwort bekam er nicht.


Auf dem Schreibtisch in der Werkstatt liegt Lis alte Polizeimütze. Auf ihrem Schirm prangt ein blechernes Emblem. Vier kleine goldene Sterne bilden einen Halbkreis um einen fünften, sehr viel größeren Stern. Der große Stern symbolisiert die Führung der Kommunistischen Partei, die vier kleinen Sterne die Arbeiter, Bauern, Kleinbürger und die Bourgeoisie. Es ist ein sehr altes Symbol, es stammt noch aus der Zeit Mao Zedongs.

In seiner Zeit als Elitepolizist trug Li diese Mütze mit Stolz. Heute erinnert sie ihn daran, wie unbeschwert sein Leben einst war - damals, als er Chinas dunkle Seite noch nicht kannte.

Als wir Li im Februar 2014 noch einmal treffen, hat auch die letzte Rechtsinstanz - das Oberste Volksgericht von Chongqing - seine Klagen abgewiesen.

Li sagt, er habe jetzt verstanden, dass er den Kampf gegen die Regierung nie gewinnen konnte. Weil er die ganze Zeit nach den falschen Regeln gekämpft habe. Er hatte geglaubt, in einem Land zu leben, in dem man mit Petitionen etwas erreichen kann. In dem man vor Gericht eine faire Chance hat. Er hatte an ein China geglaubt, das es so vielleicht nie gegeben hat.

Nachdem er das verstanden hatte, geschah etwas mit Li Yiwen.


REVOLTE IM INTERNET

Es ist schon später Abend, doch in Xie Sunmings neuer Produktionsstätte herrscht Hochbetrieb. Etwa dreißig Wanderarbeiter sitzen an Nähmaschinen und fertigen mit flinken, routinierten Handgriffen eine Fuhre lilafarbener, halbdurchsichtiger Kleider für die Frühjahrskollektion.

Der Raum ist etwa so groß wie eine Turnhalle und wird von grellem Deckenlicht ausgeleuchtet. Der Boden wird an manchen Stellen von bunten Stofffetzen verschluckt. Aus einem Radio tönt Musik, mehrere Näherinnen schnattern durcheinander, eine trägt ihr schlafendes Baby auf dem Rücken.


Xie geht eine Weile durch die Tischreihen und schwatzt mit den Arbeitern, dann lässt er sich von seinem Vorarbeiter erzählen, wie die Geschäfte laufen.

Im September 2013 haben seine Frau und er neu angefangen. Sie haben in einem kleinen, etwas abgelegenen Industriegebiet von Chongqing neue Räumlichkeiten gemietet und dort begonnen, neue Textilien zu fertigen. Inzwischen verkaufen sie ihre Produkte wieder in ganz China. Xie reist viel durchs Land, um Geschäftspartnern ihre Kollektion vorzustellen. Es ist fast wieder so wie früher, wie vor jenem Tag, an dem Polizisten Xie aus seiner Wohnung eskortierten.


Xie wirkt stolz und gelöst, wenn er über sein Unternehmen spricht. Die Schulden aus der Straflagerzeit seien abbezahlt, erzählt er. "Die Gewinne steigen wieder."

Er könnte Xishanping einfach vergessen. Es gelingt ihm nicht.

"Von außen denkt man, ich bin eine normale Person", sagt Xie. "Im Inneren aber bin ich abnormal." Man habe ihn unmenschlich behandelt. "Ich fühle mich wie ein Baum, der beschnitten wurde."


Nach seiner Entlassung begann Xie das System der Straflager zu recherchieren. Bald stieß er auf eine Gruppe von gut einem Dutzend Ex-Häftlingen, die - wie er - alle wegen scheinbar harmloser Internet-Postings im Straflager gelandet waren.

Die ehemaligen Sträflinge betrieben eine Chatgruppe, sie war von Polizisten unterwandert, doch das schien den Leuten egal zu sein. Manche schickten Geld oder Nahrungsmittel an Angehörige von Straflagerhäftlingen. Ein Chat-Teilnehmer erzählte, dass er Jura studiere, um künftig Chinesen zu verteidigen, die zu Unrecht im Straflager landen. Ein anderer erzählte Xie von der yanda.


Kurz vor Xies Verhaftung hatte Bo Xilai, der Parteichef von Chongqing, versucht, in den innersten Führungskreis der KP aufzusteigen, indem er sich als harter Law-and-Order-Mann inszenierte. Also ließ Bo seinen Polizeichef Wang Lijun eine yanda durchführen, eine Kampagne gegen das Verbrechen, in deren Zuge bis zu sechstausend Menschen verhaftet worden sein sollen.

Die "Washington Post" und andere Zeitungen berichteten, dass Bo und Wang ihrem Erfolg nachgeholfen hätten, indem sie unschuldige Bürger ins Straflager steckten. Schon kleinste Vergehen seien in dieser Zeit als Vorwand für eine Verurteilung genutzt worden. Vergehen wie Xies Internetkommentar.


PU ZHIQIANG

Über die Chatgruppe kam Xie auch mit dem bekannten chinesischen Menschenrechtsanwalt Pu Zhiqiang ins Gespräch. Pu setzte sich seinerzeit verstärkt für Ex-Sträflinge aus Straflagern ein, größtenteils auf eigene Kosten. Er wollte eine Art Graswurzelrevolution gegen das System der laojiao starten.

Pu interviewte zahlreiche Ex-Sträflinge, die wegen kleiner Vergehen ins Straflager gesteckt worden waren. Die Videos dieser teils sehr persönlichen Gespräche veröffentlichte er im Internet. Pu hoffte, weitere Betroffene zu ermutigen, ihre Erlebnisse online zu teilen. Er wollte eine Flut von Augenzeugenberichten auslösen und so öffentlichen Druck für die Abschaffung der Straflager erzeugen.

Xie gefiel die Idee. Er traf sich mit Pu und ließ sich filmen.

Nachdem sein Video im Netz war, bekam Xie einen Anruf von der staatlichen Sicherheitsbehörde. "Sie dürfen jetzt Widerspruch für Ihren Fall einlegen", sagte man ihm.

Drei Tage später erhielt Xie einen Brief. "Ihre Bestrafung war nicht angemessen", stand dort zu lesen.


Kurz darauf hatte Xie ein Gespräch mit der Leitung der Polizeiwache, die ihn 2009 wegen seines Internetposts verhaften ließ. Xie fragte, ob er unschuldig gewesen sei. Der Polizist antwortete: "Zu neunzig Prozent." Es habe damals großen Druck gegeben, den laojiao immer neue Häftlinge zu liefern. Er habe Angst gehabt, am Ende selbst im Gefängnis zu landen, wenn er den Befehl nicht ausgeführt hätte.

Xie hatte jetzt auf alles Antworten. Er hatte die Kontrolle über sein Leben zurück. Er hätte es dabei belassen können. Doch Xishanping ließ ihm noch immer keine Ruhe.


SCHWARZE GEFÄNGNISSE

Am 15. November 2013, vor fast genau fünf Jahren, sah es kurz so aus, als würde in China alles besser. Die dritte Plenarsitzung des Kongresses der Kommunistischen Partei beantragte die Schließung der laojiao. Li, Xie, Sun und Pu aber war nicht nach Feiern zumute. Denn schon bald mehrten sich die Hinweise, dass es auch künftig Folter, Zwangsarbeit und Gehirnwäsche in China geben würde.

Nach Angaben von Staatsmedien wurden die laojiao nach und nach zu Drogenentzugszentren (qiangzhi geli jiedusuo) umgebaut. Auch Xishanping präsentiert sich im Internet inzwischen als eine solche Einrichtung. Laut dem chinesischen Antidrogengesetz müssen die Häftlinge solcher Einrichtungen Zwangsarbeit leisten.

Nach Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters sind in vielen dieser angeblichen Entzugsanstalten zudem dieselben Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung wie vormals in den laojiao. "Nichts hat sich wirklich geändert", sagt Hubert Körper von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte. Die chinesische Regierung versuche, die "Weltöffentlichkeit zu täuschen".

Neben den angeblichen Drogenentzugsanstalten gibt es noch weitere Einrichtungen, in denen unliebsame Bürger eingesperrt und gefügig gemacht werden. Einige davon sind noch undurchsichtiger als die laojiao.

Ein Beispiel dafür sind die sogenannten "schwarzen Gefängnisse" (hei jianyu), die in keinem festen Gebäude mehr untergebracht sind. Laut Amnesty International werden Büros oder Hotelzimmer genutzt, um politische Aktivisten oder rebellische Bürger über Monate festzusetzen. Nach Angaben der chinesischen Staatszeitung "Global Times" kooperieren Provinzpolitiker mit solchen illegalen Einrichtungen, um unbequeme Kritiker aus dem Weg zu schaffen.

Die Menschenrechtsorganisation Chinese Human Rights Defenders (CHRD) hat heimlich geschossene Videos und Fotos aus solchen Einrichtungen veröffentlicht. In einer Studie von Oktober 2014 zitiert CHRD mehrere Augenzeugen, die detailliert berichten, wie Menschen in schwarzen Gefängnissen zu Tode gefoltert worden sein sollen.

RECHTSKUNDEUNTERRICHT

Nach Recherchen der Zeitschrift "Caijing" werden Dissidenten zudem in sogenannten Einrichtungen für Rechtskundeunterricht (fazhi jiaoyu xuexiban) festgehalten und mittels Schlafentzug oder Schlägen davon abgebracht, sich bei der Zentralregierung in Peking über Missstände in ihren Provinzen zu beschweren.

Laut Amnesty International werden Rechtskundezentren zudem genutzt, um Falun-Gong-Anhänger von ihrem Glauben abzubringen. Nach Angaben der Agentur Reuters bezeichnen ehemalige Insassen die Zentren als "Gehirnwäscheklassen".

Auch für Parteimitglieder, die in Ungnade gefallen sind, existieren laut CNN inoffizielle Haftanstalten, sogenannte shuanggui.

Manche Dissidenten wurden laut Amnesty International in psychiatrische Anstalten gesteckt und dort mit Psychopharmaka ruhiggestellt. Andere wurden für vergleichsweise kleine Vergehen mit bis zu dreizehn Jahren Haft bestraft. Nach Angaben von Staatsmedien gibt es zudem sogenannte Korrekturzentren, deren Insassen mit Zwangsarbeit und politischer Indoktrination zu braven Bürgern umerzogen werden sollen.

Chinas System der Unterdrückung scheint nach der Abschaffung der laojiao eher noch größer, flexibler und effizienter geworden zu sein. Der Staat kann inzwischen fast jeden brechen, wenn er es will. Selbst jemanden wie Pu Zhiqiang.


Im Mai 2014 wurde Pu unter dem Vorwand der Unruhestiftung verhaftet und mehr als ein Jahr lang festgehalten. Teils wurde dem an Diabetes leidenden Anwalt der Zugang zu Insulin verwehrt. Im Dezember 2015 wurde Pu zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt. Zudem wurde ihm die Anwaltslizenz entzogen.

Der Mann, der einst als einer der wichtigsten Vertreter der Meinungsfreiheit in der Volksrepublik China galt, der Mann, in den vor allem Xie so große Hoffnung gesetzt hatte, leistete am Ende keinen Widerstand mehr. Er akzeptierte sein Urteil.

VERÄTZTE AUGEN

Als wir Sun Jongdae noch einmal treffen, sind an seinem Hals die Spuren von Verätzungen zu sehen. Sein rechtes Auge hat laut einem ärztlichen Attest nur noch 25 Prozent Sehfähigkeit. Sein Handy klingelt in regelmäßigen Abständen. Am Apparat ist stets ein Polizist. Er wird bald das Café erreichen, in dem wir gerade sitzen. Unser Gespräch wird kurz vorher zu Ende sein. Sun möchte nicht, dass der Beamte uns zusammen sieht.

Kurz nach seiner Entlassung aus Xishanping holte Sun seinen Sohn von der Schule ab. Er sagt, er sei erstaunt gewesen, wie erwachsen der Junge geworden war. Sun erzählte von Xishanping. Sein Sohn erzählte, dass er bald zur Armee gehen würde. Sun war erleichtert. Er wusste, dass es zwischen ihnen wieder gut werden würde. Er hatte seinen Sohn nicht verloren.

Wenige Monate später starb Suns Vater. Er war achzig und schwer krank gewesen. Sun aber fühlte sich schuldig. Er glaubte, dass er dem alten Mann das Herz gebrochen hatte. Er habe seinem Vater nie erzählt, dass er im Straflager gewesen war, sagt Sun. Der Vater habe ihn auch nie danach gefragt. Trotzdem habe er es wohl gewusst oder zumindest geahnt.

Sun glaubte, er habe Schande über seine Familie gebracht. Er schämte sich dafür. Doch dann änderte sich etwas Grundsätzliches in China - und damit auch für Sun.

2012 fiel Bo Xilai in der Kommunistischen Partei in Ungnade. Die KP entzog Bo alle Ämter, inklusive der Mitgliedschaft in der Partei. Sie warf ihm Bestechlichkeit, Unterschlagung und Amtsmissbrauch vor. Auch Bos Antiverbrecherkampagne geriet plötzlich in Verruf.


Am 24. Juli 2013, kurz bevor Bo Xilai vom Mittleren Volksgericht der Stadt Jinan zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, erklärte ein Polizeikomitee Suns Straflagerstrafe für unangemessen. Nach weiterem Streit vor Gericht bekam er für seine fehlerhafte Verurteilung rund 3750 Euro Entschädigung.

Sun war fassungslos. 2009 hatte seine Verhaftung Bos Karriere gedient. Nun also diente seine Begnadigung Bos politischer Demontage. Sein toter Vater aber wusste von alldem nichts. Und He Gangs Schlägertrupp hatte seine Hüfte zertrümmert. Xishanping war wie ein dunkles Mal, das sich nicht mehr abwaschen ließ.


Am 16. Dezember 2013 geriet Sun erneut in eine Schlägerei. Polizisten verhafteten ihn und brachten ihn auf die Wache. Sun wehrte sich nach Kräften. Er sagt, dass die Polizisten ihn an einem Stuhl festgebunden hätten. Dann hätten sie ihm sieben- oder achtmal Pfefferspray ins Gesicht gesprüht.

Laut einem ärztlichen Attest verätzte das Spray Suns rechtes Auge und seinen Hals. Sun wusste, dass er nichts ausrichten konnte, doch er wollte sich nicht beugen. Er feuerte die Polizisten regelrecht an weiterzumachen.

"Vielleicht sollte ich mal einen Psychotest machen", sagt Sun über sich. "Ich fühle fast nichts mehr. Ich bin total abgestumpft."

Nach dem Vorfall mit dem Pfefferspray habe die Polizei ihn lange in einer Sammelzelle festgehalten, sagt Sun. Seine Augen und sein Mund seien so stark angeschwollen gewesen, dass er sie kaum noch aufbekommen habe. Er befeuchtete nur morgens und abends seine Lippen mit etwas Wasser. Essen konnte er nichts. Niemand auf der Wache behandelte seine Wunden.


Sun fotografierte seine Verletzungen heimlich. Als er am 30. Dezember wieder freikam, veröffentliche er die Bilder bei dem chinesischen Kurznachrichtendienst Weibo. Mehr als 300.000 Menschen riefen sie auf, hinterließen empörte Kommentare, verbreiteten die Bilder weiter. Einen Tag später waren alle Einträge aus dem Internet gelöscht.

Seitdem, sagt Sun, verfolge ihn die Polizei auf Schritt und Tritt. Die Beamten haben ihm eine Entschädigung für die Verletzungen gezahlt. Doch Sun will mehr Geld. Er hat den Beamten gedroht, eine Petition in Peking abzugeben, die auf die Misshandlungen der Polizisten hinweist. Seitdem bekommt er regelmäßig Kontrollanrufe.

Bevor er aufsteht und sich anzieht, erzählt Sun noch, dass er kürzlich getauft worden sei. Er sei jetzt evangelischer Christ. Er hoffe, dass Gott ihm den Weg zeige, dass er endlich Frieden finde. "Sollte ich He Gang je wiedersehen", sagt Sun, "dann werde ich ihn zum Essen einladen."


TRAUMA

Xie bekam noch mehrfach Besuch von der Polizei. Einmal hätten die Beamten versucht, ihn zu kaufen, erzählt er. Sie versprachen ihm, dass er bald ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann sein würde. Er müsse nur aufhören, über seine Zeit im Straflager zu reden.

Ein anderes Mal hätten die Polizisten ihm gedroht, sagt Xie. Sie hätten ihm gesagt, dass sie ihn finden würden, ganz gleich, wo er auch hingehe.

Ein drittes Mal klingelte jemand an Xies Wohnungstür.

Vor der Tür stand ein Mann, der sagte, er wolle das Breitband für Xies Internetanschluss reparieren. Xie sagte, dass er gar keinen Breitbandanschluss habe. Als er später die Wohnung verließ, waren die Räder seines Autos zerstochen.

Bei unserem letzten persönlichen Treffen wirkt Xie mitunter gehetzt. Sein Handy lässt er meistens ausgeschaltet. Er glaubt, dass der Staat es überwacht. Ohnehin habe er oft das Gefühl, dass jemand ihn beobachte.

Dennoch tauscht er sich weiter mit den Ex-Sträflingen aus und gibt Zeitungen, Magazinen und Fernsehsendern Interviews über seine Zeit im Lager.

Von der angeblichen Abschaffung der laojiao ist Xie bitter enttäuscht. Eine wirkliche Reform würde anders aussehen, sagt er. Die Regierung solle die Rede- und Pressefreiheit stärken und ein unabhängiges Rechtssystem einführen. Das Ziel müsse ein demokratisches Land sein, sagt Xie. Doch das sei nichts weiter als ein Wunschtraum.

Einmal, als Xie spazieren ging, hörte er den Ruf eines Kuckucks, und sofort kam alles zurück. Der brennende Durst. Die Einsamkeit der schlaflosen Nächte. Die Angst vor den Demütigungen und Schlägen. Der Hass auf die Gruppenleiter.

Xie drehte um und ging nach Hause. Er verstand, dass er nie wieder wirklich frei sein würde.


UNTERWERFUNG

Eine wirkliche Abschaffung von Zwangsarbeit, Folter und Gehirnwäsche in China wäre nur durch einschneidende Reformen möglich. Um die Bürger besser zu schützen, müssten Ordnungshüter konsequent dafür bestraft werden, wenn sie Menschen ohne fairen Prozess über Monate festhalten, vor Gericht mit zweifelhaften Beweisen belasten oder durch Folter zu falschen Geständnissen zwingen.

Es ist unwahrscheinlich, dass es dazu kommt. Solche Reformen würden erstens voraussetzen, dass die Kader der Kommunistischen Partei auf einen Teil ihrer Macht verzichteten. Besonders das Ministerium für Öffentliche Sicherheit, dem offiziell die Polizei untersteht, und die Regierungen in den Provinzen, die weitreichende Befehlsfreiheiten über die örtlichen Sicherheitskräfte haben, würden durch eine ernsthafte Reform der Straflager an Einfluss verlieren.

Zweitens müssten sich auch die Kräfteverhältnisse in der chinesischen Justiz grundlegend ändern. Laut Analysen der Jamestown Foundation, einem Think Tank in Washington, haben höhere Gerichte derzeit erhebliche Kontrollbefugnisse gegenüber niedrigeren Gerichten, können also Einfluss auf die lokale Rechtsprechung nehmen. Obendrein steht der Sicherheitsapparat hierarchisch über den Gerichten. Die Polizei ist dadurch bei Gerichtsentscheidungen oft in einer privilegierten Position.

Die chinesische Gesellschaft hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten rasant verändert. Die Zentralregierung in Peking hat dem Wirtschaftswachstum so gut wie alles untergeordnet: den Erhalt kultureller Schätze, den Umweltschutz, Millionen enteignete Bauern. Nicht aber ihre eigene Macht. Im Gegenteil: Je mehr soziale Reibung es gibt, desto differenzierter und effizienter scheinen die Werkzeuge zur Unterdrückung und Kontrolle der Bevölkerung zu werden.

Es gibt wohl nur einen Grund, warum Einrichtungen für Folter und Zwangsarbeit an Bedeutung verlieren könnten. Es könnte sein, dass der Staat sie irgendwann nicht mehr braucht.

Bis 2020 will die chinesische Zentralregierung nach und nach im ganzen Land ein sogenanntes Social-Credit-System einführen. Alle Bürger sollen dann von künstlicher Intelligenz und einem immer dichteren Netz aus Kameras überwacht werden.

Wer sein Verhalten nicht an die Normen und Maximen der Partei anpasst, muss erhebliche soziale Benachteiligungen fürchten. Fällt der Punktestand eines Bürgers unter einen gewissen Grenzwert, darf er zum Beispiel keine Zugtickets mehr buchen oder kann im Job nicht mehr befördert werden. Auch Menschen, deren Freunde als zu regierungskritisch eingestuft werden, müssen mit Punkteabzug rechnen.

In einigen Regionen Chinas ist das Social-Credit-System schon heute Alltag. Im ostchinesischen Dorf Fulushan etwa hängt laut einem Bericht des Deutschlandfunk eine große Tafel, auf der die Bürger mit dem aktuell höchsten Social Score verzeichnet sind. "Was immer wir auch tun", sagte ein Bewohner Fulushans im Dezember dem Deutschlandfunk, "wir denken dabei an unsere Kreditpunkte."

DER GEBROCHENE PATRIOT

Li hat das Straflager nie ganz verlassen. Wenn er schläft, kehrt er dorthin zurück. Zwei Träume suchen ihn immer wieder heim.

Im ersten verbrennt ihm kochend heißer Reis die Speiseröhre. Im zweiten sitzt Li wieder in der langen, grell erleuchteten Fabrikhalle von Xishanping und lötet. Er macht immer wieder dieselben Handgriffe - bis er schließlich aus dem Schlaf schreckt.

Es ist ein sonniger Februartag im Jahr 2014. Li sitzt in seiner neuen Wohnung in Rongchang. Vier Zimmer, 107 Quadratmeter, zwei Balkone mit Blick auf einen großen Platz. Beiger Marmorboden, Wandtapete mit Rosenblüten, alles neu, alles modern. Nur im Esszimmer stehen noch die kleinen roten Hocker aus Lis Werkstatt.

Knapp 450.000 Yuan hat die Familie für die Wohnung gezahlt, umgerechnet rund 56.300 Euro. Den größten Teil der Summe haben sie per Kredit finanziert. Die 120.000 Yuan Abfindung für ihr altes Bauernhaus reichten nicht einmal im Ansatz, um die Kosten zu decken.

Li erzählt das alles nur widerwillig. Er wirkt gereizt, müde, des Kämpfens überdrüssig. Er sagt, er habe plötzlich Hemmungen, mit anderen Menschen zu sprechen. Er habe sich von der Welt ein Stück weit abgewendet.


Als wir Li im Februar 2018 ein letztes Mal treffen, schiebt er Sonderschichten in einem Fitnessstudio, um den teuren Immobilienkredit abzubezahlen. Er hat keine Hoffnung mehr, dass der Staat ihn je fair entschädigt.

Manchmal kehrt Li zurück zu seinem alten Bauernhaus. Er besucht es, wie andere Menschen einen Friedhof besuchen, um einem verstorbenen Angehörigen nahe zu sein. Li besucht sein altes Leben. Die Zeit, in der er wusste, was er wollte und wer er war.

Nur ein einziges Mal hat Li seine Kinder mitgenommen. Sie standen am Ufer des nebligen Sees und betrachteten die halb versunkene Ruine. Es dauerte lange, bis Li etwas sagte. Es war nur ein einziger Satz.

"Vergesst niemals, was der Staat uns angetan hat."


DAS TEAM

Konzept
Stefan Schultz

Recherche
Edward Lee
Jannika Schultz
Stefan Schultz

Text
Stefan Schultz

Fotos
Jannika Schultz

Videos
Edward Lee
Stefan Schultz
Jannika Schultz
Bernhard Zand

Animationen
Birk Reddehase

Zeichnungen
Mona Eing
Michael Meißner

Sprecher
Frank Gustavus

Kalligrafien
Edward Lee

Redaktion
Yasmin El-Sharif
Olaf Kanter
Birger Menke
Jens Radü

Dokumentation
Mara Küpper
Rainer Szimm

Rechtsabteilung
Sascha Sajuntz

Schlussredaktion
Christine Sommerschuh
Sebastian Hofer

Fotoredaktion
Nasser Manouchehri
Stephanie Meyer-Stolten

Videoschnitt
Roman Höfner
Aida Marquéz
Stefan Schultz

Grafik
Tobias Lauer
Michael Niestedt
Marcel Pauly
Hanz Sayami
Patrick Stotz

Motion Design
Ferdinand Kuchlmayr
Michael Niestedt

Musik
Caroline Dale
Ilan Eshkeri
Stephen Mclaughlin
Risto Miettinen
Andrew Raiher
Debbie Wiseman

Sounddesign
Birk Reddehase
Stefan Schultz

Programmierung
Chris Kurt

Technik
Axel Bolz

Testgruppe
Matthias Kaufmann
Timo Sauer
Stefan Schütt

Übersetzung ins Englische
Chris Cottrell
Charles Hawley
Daryl Lindsey

Übersetzung aus dem Chinesischen
Sebastien Armand
Maximilian Kalkhof
Edward Lee

Zusätzliches Bildmaterial
Getty Images
Julie Keith
Mapbox
Reuters
Xie Sunming
YouTube

Zusätzliches Videomaterial
Li Yiwen
Pu Zhiqiang
Xie Sunming

DAS DUNKLE SYSTEM



Lesen Sie in Teil 2, was Li, Xie und Sun im Straflager widerfährt.

Lesen Sie in Teil 3, wie das Straflager die Persönlichkeit von Li, Xie und Sun verändert.

Lesen Sie in Teil 4, wie Li, Xie und Sun versuchen, das Trauma von Xishanping zu verarbeiten.

Teil 1: Verhaftet
Teil 2: Folter und Zwangsarbeit
Teil 3: Die Verwandlung
Teil 4: Traumata


Was bisher geschah

Der Elektriker Li Yiwen ist ein glühender Anhänger der Kommunistischen Partei. Als die Provinzregierung sein Haus abreißen will und er eine höhere Entschädigung dafür fordert, wird er plötzlich verhaftet. Der jähzornige Lkw-Fahrer Sun Yongda wird nach einer Prügelei mit korrupten Wachmännern ebenfalls festgesetzt. Auch den Textilfabrikanten Xie Sunming führen Polizisten aus seiner Wohnung ab, nachdem er einen kurzen regierungskritischen Kommentar im Internet veröffentlicht hat. Die drei Männer werden ohne Gerichtsprozess ins Straflager Xishanping gebracht.

Der patriotische Li Yiwen, der jähzornige Sun Yongda und der geschäftstüchtige Xie Sunming sind wegen kleiner Vergehen ins Straflager Xishanping gesteckt worden. Sie lernen sich dort kennen und verbünden sich gegen ihre Aufseher, die sie mit Prügeln, Psychoterror und tagelangem Wasserentzug quälen. Die Sträflinge müssen sechs Tage die Woche in bis zu 16-stündigen Schichten LAN-Anschlüsse löten und bekommen in Gehirnwäscheklassen die Lehren der Kommunistischen Partei eingetrichtert. Als Sun mit dem aggressiven Aufseher He Gang aneinandergerät, eskaliert die Lage.

Die drei Chinesen Li Yiwen, Sun Yongda und Xie Sunming leiden im Straflager Xishanping seit Monaten unter Folter, Gehirnwäsche und Zwangsarbeit. Durch die traumatischen Erlebnisse beginnen sich ihre Persönlichkeiten zu verändern: Der temperamentvolle Sun wird 30 Tage in Einzelhaft gefoltert und verliert den Kontakt zu seinen Gefühlen. Der apolitische Xie entwickelt einen gewaltigen Hass auf die Regierung. Der patriotische Li verliert den Glauben an die Kommunistische Partei. Als die Männer schließlich freikommen, merken sie, dass sie ihr altes Leben nicht mehr weiterleben können.