Das dunkle System

Teil 1: Verhaftet

LI YIWEN

Li hat das Straflager nie ganz verlassen. Wenn er schläft, kehrt er dorthin zurück. Zwei Träume suchen ihn immer wieder heim.

Im ersten hockt Li Yiwen auf dem Fußboden, in der linken Hand eine Schüssel Reis, in der rechten ein Paar Stäbchen, den Blick starr zu Boden gerichtet. Hinter ihm steht ein Wächter und zählt von zehn herunter. Bei null wird er das Essen wegreißen.

Li schaufelt den heißen Reis in sich hinein, so schnell er kann, so viel er kann. Er spürt, wie seine Speiseröhre verbrennt.

In den Hügelketten Zentralchinas, im Hinterland von Chongqing, einer der größten Metropolen der Welt, zwischen Reisterrassen und Bambuswäldern, liegt ein nebelverhangener Stausee. Früher lag hier Lis Heimatdorf. Bei der Umsiedlung fühlten sich 52 seiner Nachbarn und er ungerecht behandelt. Als sie gegen die Bezirksregierung aufbegehrten, steckte man sie ins Straflager.

Der 41-jährige Li hat früher selbst für den Staat gearbeitet. Er war einmal Patriot. Doch dann musste er den Boden seiner Väter verlassen - und mit ihm das Reich der Illusionen, die er sich zeit seines Lebens über China gemacht hatte.

Seit der Gründung der Volksrepublik China sind schätzungsweise 50 Millionen Menschen in Straflager gesteckt worden. Es ist das größte System für Zwangsarbeit, Folter und Gehirnwäsche, das es weltweit je gegeben hat. Noch vor zehn Jahren soll es in China rund 1300 solcher Einrichtungen gegeben haben.

Im November 2013, vor fast genau fünf Jahren, hat die Kommunistische Partei die finsteren Orte offiziell abgeschafft. Tatsächlich existieren viele der Einrichtungen unter neuen Namen weiter. Allein in der chinesischen Provinz Xinjiang sollen derzeit bis zu eine Million Menschen in Straflagern festgehalten werden.

Straflager haben vor allem ein Ziel: Sie sollen den Willen all jener brechen, die die Allmacht des Staates gefährden. Neben Kriminellen und Drogensüchtigen kommen vor allem Dissidenten dorthin: Angehörige unterdrückter Minderheiten wie Tibeter und Uiguren, Anhänger der Meditationsschule Falun Gong, Mitglieder christlicher Untergrundkirchen, Menschenrechtler, Aktivisten. Und einfache Bürger, die für ihre Rechte kämpfen.

Von drei solcher Menschen handelt diese Geschichte.

Li, Xie und Sun waren zwischen 2009 und 2010 zur selben Zeit im Lager Xishanping inhaftiert, einem sogenannten laojiao suo. So wurden jene rund 350 Straflager genannt, in denen Bürger seinerzeit ohne Gerichtsverfahren oder rechtskräftige Verurteilung landeten. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen sollen in laojiao ähnliche Zustände geherrscht haben wie in den heutigen Lagern von Xinjiang.

In den vergangenen sechs Jahren hatten wir mit Li, Xie und Sun regelmäßig Kontakt. Wir haben per Chat, Telefon und Skype kommuniziert und uns mehrfach persönlich mit ihnen getroffen. Wir wollten möglichst viel über die Bedingungen in einem chinesischen Straflager herausfinden, und wir wollten beobachten, was die Haft mit den Menschen macht. Wie verändert sich ihre Persönlichkeit? Wie gehen ihre Familien damit um?

Li, Xie und Sun haben umfassende Dokumente über ihre Zeit im Straflager gesammelt. So konnten wir ihre Aussagen mit Tausenden Fotos, Videos und Dokumenten abgleichen. Um uns ein möglichst objektives Bild zu machen, haben wir zudem Familienangehörige, Freunde und weitere Ex-Häftlinge interviewt und die meisten in dieser Geschichte beschriebenen Orte persönlich besucht. Auch Xishanping.

Viele unserer Gesprächspartner wollen mit ihrem richtigen Namen genannt werden. Es ist ihr ausdrücklicher Wille, dass ihre Erfahrungen öffentlich gemacht werden - auch wenn dies in China womöglich sanktioniert wird. Personen, die anonym bleiben wollen, sind mit einem Stern markiert. Die Leitung von Xishanping haben wir um Stellungnahme gebeten, aber keine Antwort erhalten.

DER NEBELSEE

Vor der Windschutzscheibe wabert feuchtgrauer Nebel. Er verschluckt die Motorboote auf dem Wasser, kriecht durch die Bambus- und Schilfwälder die Böschung hinauf und erreicht schließlich die einsame Landstraße, die zu den Überresten von Lis Heimatdorf führt.

Li verlangsamt das Tempo. Er ist ein kleiner, stämmiger Mann, dessen Körper ständig unter Spannung steht. Sein rundes Gesicht steht im Kontrast zu den stoppeligen schwarzen Haaren, die auf seinem Kopf ein fast waagerechtes Plateau bilden.

Li erzählt von seiner Jugend in seinem Heimatdorf Shuanghe Liushe. Er spricht schnell und mit hoher Stimme. Wenn er auf etwas stolz ist, legt er den Kopf in den Nacken und reckt das Kinn empor.

Das Auto fährt an einem riesigen Werbeplakat vorbei. "Die Fertigstellung des Yutan-Stausees wird der Bevölkerung guttun", steht dort in roten chinesischen Schriftzeichen auf hellblauem Grund. Es gab Zeiten, in denen Li solche Versprechen glaubte.


In der Dorfschule lernte Li die Lehren der Kommunistischen Partei (KP). Es waren die Achtzigerjahre, die Zeit von Deng Xiaopings großen Wirtschaftsreformen. Deng verteilte das Land an die Leute, damit sie es selbst bestellen konnten. Der Kollektivismus hatte ausgedient, überall im Land verbreitete sich die Lehre vom eigenständigen Leben. Hunderte Millionen Menschen stiegen in die Mittelschicht auf.

Es war die Zeit des Aufbruchs, die Zeit einer neuen KP. Und Li Yiwen wurde zu einem ihrer glühendsten Anhänger.

Mehrere Jahre arbeitete Li bei der wujing, einer Elitetruppe der Polizei, die vor allem für die innere Sicherheit zuständig ist. Seine Hauptaufgabe war es, Konflikte zwischen Bürgern und Staat zu schlichten. Ein Polizist müsse immer das Volk schützen, predigten ihm seine Ausbilder, er dürfe niemals sein Henker sein. Li dachte, er stünde auf der richtigen Seite.


Li parkt das Auto am Rande einer Böschung. Die Erde schimmert rötlich, die Luft ist feucht und riecht nach Kamille. Li bedeutet uns mitzukommen, einen steilen, von Bambusstämmen gesäumten Abhang hinunter.

Unten liegt ein von Unkraut überwuchertes Feld. In seiner Kindheit erntete Li hier Peperoni und Auberginen, oder er hütete die Schweine. Er musste früh mit anpacken, früh Verantwortung übernehmen. Er war erst ein Jahr alt, als seine Mutter an Krebs starb.

Am Ende des Feldes steht Lis zerstörtes Bauernhaus.

DAS VERSUNKENE DORF

Die Ruine von Lis Haus steht genau dort, wo der Stausee seine Ausgleichsfläche für Überschwemmungen hat. Regnet es viel, stehen Küche und Wohnzimmer unter Wasser, bei wenig Regen, so wie heute, nur der Schweinestall.

Li deutet auf den See. Unten im Tal habe einst ein Pflaumenbaum gestanden, sagt er. Er habe ihn zur Geburt seiner Tochter Li Shuiting gepflanzt. Der Baum sollte zusammen mit ihr heranwachsen, Li wollte später mit Shuiting seine Früchte ernten.


Langsam umrunden wir das Haus. Auf dem undichten Dach wuchert Efeu, in den Außenwänden klaffen große Löcher. Li betrachtet jeden Schaden genau. Dann gibt er sich einen Ruck und geht durch die Eingangstür. Er ist seit seiner Festnahme nicht mehr hier gewesen.

Der Stausee, dessentwegen Lis Haus zerstört wurde, fasst etwa 131 Milliarden Liter Süßwasser, etwas mehr als halb so viel wie der bayerische Tegernsee. 6007 Menschen mussten für seinen Bau umgesiedelt werden, darunter Familie Li und zwei von Lis Cousins, Wang Shangcai und Wang Shangjin.


Als Lis Familie erfuhr, dass sie wegziehen sollte, war der Protest groß. Besonders Lis altersschwacher Vater verweigerte sich, er hatte sein ganzes Leben in dem Haus verbracht. Nur Li selbst war der Meinung, dass man sich der Regierung nicht in den Weg stellen darf, wenn sie China weiterentwickeln will.

Er dachte, dass sie für ihr Haus eine angemessene Entschädigung bekommen. Er wollte davon eine Wohnung in der nahe gelegenen Stadt Rongchang kaufen, in der er seit ein paar Jahren einen kleinen Elektroladen betrieb. Als die Berechnung für die Abfindung kam, war Li tief enttäuscht.

Rund 120.000 Yuan sollten sie bekommen, knapp 12.000 Euro. Eine neue Wohnung würden sie sich davon nie leisten können. Li wühlte sich durch offizielle Dokumente, machte eigene Berechnungen. Danach standen ihnen gut 255.000 Yuan zu.

Zusammen mit anderen Dorfbewohnern, die ebenfalls mehr Entschädigung wollten, setzte Li eine Petition auf. Die Umsiedlungen würden nicht nach den offiziellen Richtlinien der Zentralregierung durchgeführt, schrieben sie. Mitspracherechte betroffener Bürger würden beschnitten, Verträge nicht ordnungsgemäß abgeschlossen. Die Behörden müssten sich an die Gesetze halten.

Unter die Petition schrieben sie "Das ist unser aller Wille!!!!!!!!" Einen Satz mit acht Ausrufezeichen. 53 Dorfbewohner unterzeichneten mit ihrem Daumenabdruck.


DIE DORFDELEGATION

In der Stube des alten Bauernhauses liegt noch das Körbchen, in dem früher Lis Kaninchen schliefen. In einem Schrank stapeln sich bunte Porzellanschüsseln, braunes Regenwasser hat sich in ihnen gesammelt. Li nimmt einige heraus und versucht, sie zu entstauben. Dann geht er hinüber zum Esstisch, hebt eine Suppenkelle auf und steckt sie in seine Umhängetasche.

Momentan schlafen seine Frau, seine Tochter, sein Sohn und er im Elektroladen auf einer speckigen, zwei mal zwei Meter großen Matratze. Lis Vater schläft auf einem Klappbett in der Werkstatt zwischen kaputten Elektrogeräten.


Wir fragen Li, wie er sich jetzt fühlt.

"Chuangyi manmu", antwortet er. "Alles, was ich sehe, liegt in Trümmern."

Am Morgen des 29. Oktober 2009 fuhr eine Delegation des Dorfes nach Chongqing, um ihre Petition bei der zuständigen Behörde einzureichen. Als man sie vorließ, sprachen Li und seine Cousins im Namen der Gruppe. Andere Dorfbewohner filmten das Gespräch, sodass sich die Diskussion Wort für Wort nachvollziehen lässt.

"Sie müssen die Richtlinien für die Entschädigung überarbeiten", forderte Wang Shangjin. - "Wir müssen überleben und essen", sagte Wang Shangcai. - "Was ist mit dem restlichen Geld passiert?", fragte Li. "Habt ihr es versoffen?"

Mehr als eine Stunde diskutierte die Dorfdelegation mit den Beamten. Dann verwies man Li und die anderen des Saals.

Ein Lokalpolitiker wird später zu Protokoll geben, dass die Dorfdelegation in einem nahe gelegenen Imbiss eine Schlägerei angezettelt habe. Li und seine Männer hätten gedroht, die Videos von der Verhandlung im Internet zu veröffentlichen und eine neue Petition bei der Zentralregierung in Peking einzureichen. Sie hätten "schlechten Einfluss" auf die Gesellschaft ausgeübt und das Stausee-Projekt "erheblich beeinträchtigt".

Li und seine Cousins stellen die Situation anders dar. Sie sagen, dass die Polizisten versucht hätten, sie zu provozieren. Dass sie sich aber nicht hätten provozieren lassen.

Welche Version stimmt, lässt sich nicht mehr nachprüfen. Klar ist, dass die Dorfdelegation am Abend mit dem Bus zurück nach Shuanghe Liushe fahren wollte - und dass sie dort niemals ankam.

HUANG GUOYU

Als Li in der Nacht nicht nach Hause kam, in das Bauernhaus am See, wusste Huang Guoyu, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Sie hatte erwartet, dass die Dorfdelegation Schwierigkeiten bekommen würde. Nicht aber, dass ihr Mann verschwindet.

Am nächsten Morgen habe sie begonnen, die Polizeistationen in der Region abzutelefonieren, erzählt Huang. "Mir war schwindelig. Ich hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen."

Tagelang suchte Huang nach ihrem Mann. Schließlich hatte sie Erfolg. Sie erfuhr, dass Li auf einer Wache im Bezirk Dazu inhaftiert war. Am 16. November 2009 sei sie mit einem Anwalt dorthin gefahren, erzählt sie. Sie wollte Li unbedingt sehen. Doch ihr Mann war gar nicht mehr auf der Polizeiwache. Sie hatten ihn schon ins Straflager gebracht.

Nach Darstellung der Polizei hatte Li "Streit angezettelt und Ärger provoziert". Der Anwalt wollte dagegen Widerspruch einlegen. Doch offiziell sei Li gar nicht verurteilt gewesen, sagt Huang. Es habe zunächst keine Dokumente über seine Festnahme gegeben. Und gegen eine Strafe, die offiziell nicht existiert, kann man vor Gericht nicht kämpfen.

Als sie wieder zu Hause war, berichtete Huang der Familie, was passiert war.

SUN JONGDAE

Wir treffen Sun Jongdae* in einem Café in Peking. Er ist ein sehniger, ungewöhnlich großer Chinese, dessen raue Haut einen dunklen, leicht ins Orange tendierenden Teint hat. Suns rechter Schneidezahn ist auffallend schief, an der rechten unteren Ecke ist ein Stück abgebrochen. Seine schwarze, zu große Lederjacke behält er das ganze Gespräch über an.

Auf unsere Fragen antwortet Sun mit knappen Sätzen, und er wird noch wortkarger, wenn er über jene dreißig Tage spricht, die er in einer Isolationszelle des Straflagers Xishanping verbringen musste, durstig, hungrig und vor Kälte unkontrolliert zitternd.


Es war ein sogenannter Mongolendolch, der Sun zum Verhängnis wurde. Ein rund vierzig Zentimeter langes Messer mit leicht gebogener Klinge, das er stets im Dachraum seines Lkw versteckte, als Schutz gegen Überfälle.

Am 3. November 2009 habe er eine Ladung Autos bei einer Spedition in Chongqing abgeholt, erzählt Sun. Er fuhr gerade vom Hof, als ihn ein paar Männer vom Ordnungsamt anhielten. Sie warfen ihm vor, den Bordstein beschädigt zu haben, und verlangten 1000 Yuan Strafe.

Da sei nichts am Bordstein, antwortete Sun. Nur eine schwarze Spur vom Reifen.

Sun sagt, dass er weggehen wollte. Dass die Beamten ihn festhielten, an seiner Kleidung zerrten. Dass er irgendwann blind um sich schlug, sich losriss und zu seinem Lkw rannte. Als sie ihn verfolgten, zückte er den Mongolendolch. Die Männer flohen. Wenig später kam die Polizei.


Sun weiß, dass er oft aufbrausend ist. Er glaubt, das hängt mit seiner Herkunft zusammen. Er stammt aus einem Dorf im äußersten Nordosten Chinas. Männern von dort wird nachgesagt, besonders jähzornig zu sein.

Wahrscheinlich spielt aber auch seine Biografie eine Rolle. Sein Vater war sehr herrisch, er bestimmte sogar, mit wem Sun spielen durfte. Als Sun 16 wurde, befahl der Vater ihm, die Schule abzubrechen und seinen Job in der städtischen Forstwirtschaftsabteilung zu übernehmen. Was Sun selbst wollte, war stets nachrangig. Vielleicht wird er auch deshalb so schnell wütend, wenn andere ihm Befehle geben.

Die Polizisten beschlagnahmten den Mongolendolch. Sun sagte, er habe sich nur gegen korrupte Ordnungskräfte gewehrt. Die Beamten gingen nicht darauf ein. Sie nahmen ihn fest, wegen illegalen Waffenbesitzes.

XIE SUNMING

Wir sitzen mit Xie Sunming im Hinterzimmer eines Restaurants. Xie trägt einen maßgeschneiderten Mantel und ein Designerhemd. Er ist etwa 1,65 Meter groß, schlank. Sein Gesicht ist frisch rasiert, frisch eingecremt. Die Hände sind zart, die Fingernägel akkurat geschnitten.

Xie berichtet von den Schlägen, die er im Straflager einstecken musste, von Hunger und Durst, von monotoner Arbeit, von der Todesangst, die er verspürte, als sie ihn auf die Krankenstation von Xishanping verlegten. Das alles sei schrecklich gewesen, sagt Xie, aber es war für ihn nicht das Schlimmste. "Was ich an Xishanping am meisten hasste, war der Kontrollverlust."

Xie sagt, dass er eigentlich ein Kind des chinesischen Wirtschaftswunders sei. Bis zu seiner Verhaftung habe er sich nicht viel aus Politik gemacht. Sein zentraler Lebensinhalt war die Textilfabrik, die er gemeinsam mit seiner Frau betrieb.

Sie entwarfen eigene Schnittmuster für Hosen, Jacken, Kleider und Röcke. Betreuten Hunderte Lieferanten und Kunden. Bauten ein Vertriebsnetz in ganz China auf. Erfanden ihr eigenes Logo. Sie machten fast alles selbst, und die Geschäfte liefen gut. Ihr jährlicher Umsatz lag bei bis zu 1,5 Millionen Euro. Bald kaufte das Paar eine Eigentumswohnung in Chongqings luxuriösem Jiangbei-Distrikt und zog dort mit seiner Tochter ein.


Xie sagt, er wisse selbst nicht, warum er im Oktober 2009 einen kritischen Kommentar auf dem Internetportal Tianya.cn hinterlassen hat. Er sei einfach einem Impuls gefolgt. Habe getan, was andere auch im Internet tun. Er habe sich nichts weiter dabei gedacht.

Der Kellner, ein Freund von Xie, stellt Tee und eine Karaffe Wasser auf den Tisch. Er zieht die Vorhänge zu und sagt, wir sollen ihn rufen, wenn wir noch etwas benötigen, dann schließt er die Tür hinter sich. Xie fährt fort.

Am Nachmittag des 13. November 2009, gegen 16 Uhr, klingelten vier Polizisten an Xies Tür. Einer hielt ihm ein Blatt Papier entgegen. Darauf stand:


Ob er das geschrieben habe, fragte der Polizist.

Xie zögerte kurz. Dann nickte er.

Der Ausdruck zeigte den Satz, den er am Vortag bei Tianya.cn unter einen Artikel geschrieben hatte. Er enthält viele Wortspiele. Im Kern nennt Xie den damaligen Chongqinger Bürgermeister Wang Hongju einen "Heuchler" und spekuliert in sarkastischem Tonfall darüber, ob er Vetternwirtschaft mit einer anderen Firma betrieben habe.

Ich habe ein Pseudonym benutzt, dachte Xie. Wie haben sie mich so schnell gefunden?

Die Polizisten baten ihn, in seiner Wohnung nichts mehr anzurühren. Sie bauten seinen Computer ab. Als Xie protestierte, versuchten sie, ihn zu beruhigen. Es sei nur eine Routineangelegenheit, sagten sie, nur eine kleine Sache.

Die Polizisten eskortierten Xie aus der Wohnung. Im Treppenhaus begegneten sie seiner Frau, die gerade von der Arbeit kam. Sie blickte Xie entsetzt an. Er wollte alles erklären, doch die Polizisten unterbrachen ihn.

"Ihr Mann muss nur kurz mit auf die Wache, um einen Bericht zu Protokoll zu geben", sagte der Beamte, der Xie schon an der Tür angesprochen hatte. "Zum Abendessen ist er wieder zu Hause."


UNTERSUCHUNGSHAFT

Im Hinterzimmer des Restaurants hat Xie angefangen, das Straflager zu zeichnen. Er skizziert den Innenhof, auf dem er fast ein Dreivierteljahr lang täglich um sechs Uhr zum Frühappell auf- und abmarschierte. Er zeichnet die Fabrik, in der er nach eigenen Angaben bis zu 14 Stunden täglich schuften musste. Schließlich malt er den Kalender, den er sich im Lager heimlich gebastelt hatte und von dem er jeden Tag ein Blatt abriss, um zu spüren, wie seine Entlassung näher rückte.

Wenn er mit seinen Zeichenkünsten an seine Grenzen stößt, nimmt Xie sein iPad zur Hand und sucht Fotos von Schlafsälen, Fabriken und Waschräumen heraus, die staatliche Medien für eine positive Berichterstattung über die Straflager nutzen dürfen.

Einmal zeichnet Xie einen rechteckigen Raum mit einer riesigen Stahlpritsche. Er ist vollgestopft mit Menschen, insgesamt sind es um die fünfzig. Die Zeichnung zeigt ein kanshousuo, ein Untersuchungsgefängnis, in dem Xie 26 Tage lang eingesperrt war, ehe sie ihn nach Xishanping brachten.


Die Haftbedingungen seien schon hier hart gewesen, erzählt Xie. "Die Zelle war so überfüllt, dass man sich zum Schlafen nicht einmal hinlegen konnte." Einige der anderen Häftlinge seien Mörder und Schwerverbrecher gewesen. An der Decke hätte Tag und Nacht ein grelles Licht gebrannt.

Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) hält Xies Schilderungen für glaubwürdig. Ihren Angaben zufolge werden in chinesischen Untersuchungsgefängnissen - im Widerspruch zum Namen - auch bereits verurteilte Verbrecher festgehalten, darunter zum Tode verurteilte Kriminelle.

Kanshousuo würden meist von lokalen Parteikadern geführt und von der zentralen Staatsgewalt nur sporadisch kontrolliert, schreibt die IGFM. Entsprechend menschenverachtend können die Haftbedingungen sein.


Im kanshousuo hätten ihn bald die Polizisten besucht, die ihn in seiner Wohnung festgenommen hatten, erzählt Xie. Die Beamten kamen mehrfach vorbei, um ihn zu verhören. Sie stellten ihm immer dieselben zwei Fragen, auf die Xie seinerseits immer gleich antwortete:

- "Sind Sie Teil einer Verschwörung gegen den Bürgermeister?"

- "Nein."

- "Wer ist Ihr Anführer?"

- "Ich habe keinen."

Einmal ketteten sie Xie mit Handschellen an ein vergittertes Fenster, stellten sich hinter ihn, sodass er sie nicht sehen konnte, und verhörten ihn zwei Tage lang von morgens bis abends.

"Sie haben mich zu jedem einzelnen Kontakt in meinem Handy-Adressbuch befragt", sagt Xie. "Sie wollten wissen, in welcher Beziehung ich zu den Leuten stehe und ob auch sie Teil einer Verschwörung gegen den Bürgermeister sind."

Xie antwortete auf alles wahrheitsgemäß. Er dachte, er hätte nichts zu verbergen.


Der verhängnisvolle Internetkommentar ist genau dreißig Zeichen lang. Xie findet es noch immer absurd, dass sie ihn dafür verhaftet haben. Der Politiker, den er in dem Kommentar verspottet, stand damals im öffentlichen Fokus. Es gibt andere, die ihn wesentlich ausführlicher und heftiger kritisiert haben als Xie.

Die Existenz von Straflagern ist in China nicht geheim, aber die Berichterstattung darüber wird scharf zensiert. Die meisten Chinesen haben von solchen Einrichtungen eine eher vage Vorstellung. So war es auch bei Xie.

Anfang Dezember 2009 reichte ein Polizist ihm ein Formular. Darauf stand: "Ich nehme die Strafe zur Umerziehung durch Arbeit zur Kenntnis." Xie wusste nicht genau, was das heißt.

Er unterschrieb.



Lesen Sie in Teil 2, was Li, Xie und Sun im Straflager widerfährt.

Lesen Sie in Teil 3, wie das Straflager die Persönlichkeit von Li, Xie und Sun verändert.

Lesen Sie in Teil 4, wie Li, Xie und Sun versuchen, das Trauma von Xishanping zu verarbeiten.

Teil 1: Verhaftet
Teil 2: Folter und Zwangsarbeit
Teil 3: Die Verwandlung
Teil 4: Traumata

DAS TEAM

Konzept
Stefan Schultz

Recherche
Edward Lee
Jannika Schultz
Stefan Schultz

Text
Stefan Schultz

Fotos
Jannika Schultz

Videos
Edward Lee
Stefan Schultz
Jannika Schultz
Bernhard Zand

Animationen
Birk Reddehase

Zeichnungen
Mona Eing
Michael Meißner

Sprecher
Frank Gustavus

Kalligrafien
Edward Lee

Redaktion
Yasmin El-Sharif
Olaf Kanter
Birger Menke
Jens Radü

Dokumentation
Mara Küpper
Rainer Szimm

Rechtsabteilung
Sascha Sajuntz

Schlussredaktion
Christine Sommerschuh
Sebastian Hofer

Fotoredaktion
Nasser Manouchehri
Stephanie Meyer-Stolten

Videoschnitt
Roman Höfner
Aida Marquéz
Stefan Schultz

Grafik
Tobias Lauer
Michael Niestedt
Marcel Pauly
Hanz Sayami
Patrick Stotz

Motion Design
Ferdinand Kuchlmayr
Michael Niestedt

Musik
Caroline Dale
Ilan Eshkeri
Stephen Mclaughlin
Risto Miettinen
Andrew Raiher
Debbie Wiseman

Sounddesign
Birk Reddehase
Stefan Schultz

Programmierung
Chris Kurt

Technik
Axel Bolz

Testgruppe
Matthias Kaufmann
Timo Sauer
Stefan Schütt

Übersetzung ins Englische
Chris Cottrell
Charles Hawley
Daryl Lindsey

Übersetzung aus dem Chinesischen
Sebastien Armand
Maximilian Kalkhof
Edward Lee

Zusätzliches Bildmaterial
Getty Images
Julie Keith
Mapbox
Reuters
Xie Sunming
YouTube

Zusätzliches Videomaterial
Li Yiwen
Pu Zhiqiang
Xie Sunming

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