Deutschland ist ein Land der Pendler. Das birgt Risiken - für unsere Gesundheit und unsere Verkehrsnetze. Aber es ist auch politisch gewollt: Lange Arbeitswege können sich steuerlich lohnen. Über die vergangenen Jahrzehnte ist die Zahl der Pendler immer weiter gestiegen. Mehr als jeder vierte Erwerbstätige braucht heute länger als eine halbe Stunde zur Arbeit. Auf ein Arbeitsleben gerechnet macht das mehr als ein Jahr Pendelei.
Wie ist die Situation bei Ihnen? Wie weit ist Ihr Arbeitsweg, und wie pendeln Ihre Nachbarn? Daten der Bundesagentur für Arbeit gewähren einen Einblick in das Pendelverhalten von 32 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Der SPIEGEL hat die Daten aufbereitet und zeigt Ihnen so detailliert wie noch nie, wie die Menschen in Ihrer Umgebung pendeln:
Fast alle Großstädte in Deutschland haben einen positiven Pendlersaldo. Sie bieten zwar zahlreiche Arbeitsplätze, doch viele Menschen ziehen wegen der niedrigeren Miet- und Grundstückspreise, für Ruhe und Natur ins Umland und fahren täglich in die Stadt.
Der Staat fördert das Arbeiten weit weg vom Wohnort: Für jeden Kilometer zwischen Haustür und Arbeitsstätte reduziert sich das zu versteuernde Einkommen um 30 Cent je Arbeitstag. Die Entfernungspauschale soll die täglichen Fahrten erschwinglich machen. Eine Rechnung, die aber nicht immer aufgeht, etwa wenn sich Familien auf dem Land wegen des schlechter ausgebauten Nahverkehrs ein Zweitauto anschaffen müssen.
Lebenssituation beeinflusst Pendelverhalten
Großstädter pendeln anders als Menschen auf dem Land, Männer legen weitere Strecken zurück als Frauen, Autopendler kommen gestresster am Arbeitsort an als Radfahrer. Zu welcher Pendlergruppe gehören Sie?
In vielen Familien herrscht noch immer eine traditionelle Rollenverteilung - vor allem, wenn es Kinder gibt, wie wissenschaftliche Studien immer wieder zeigen: Der Mann bringt als Hauptverdiener einen Großteil des Geldes nach Hause und nimmt dafür oft eine längere Fahrtstrecke in Kauf. Die Frau, auch wenn sie berufstätig ist, kümmert sich verstärkt um die Kinder, bringt sie zur Kita, regelt die Einkäufe, schmeißt den Haushalt. Sie arbeitet häufiger in Teilzeit, sodass sich lange Pendelstrecken seltener lohnen.
So legen Frauen im Schnitt einen kürzeren Arbeitsweg zurück als Männer: 74 Prozent der erwerbstätigen Frauen brauchen weniger als eine halbe Stunde zum Arbeitsplatz. Unter den Männern haben laut Mikrozensus des Statistischen Bundesamts nur 66 Prozent einen so kurzen Weg.
Auch der Wohnort wirkt sich auf die Fahrtzeit aus: Großstädter sind länger unterwegs als Menschen aus kleineren Orten. In den Städten sind gut 30 Prozent der Beschäftigten mindestens eine halbe Stunde zum Arbeitsplatz unterwegs, im Rest des Landes sind es knapp 26 Prozent.
Das hängt natürlich auch mit der Wahl des Verkehrsmittels zusammen. Wie kommen Sie zur Arbeit?
In den Großstädten haben der öffentliche Nahverkehr und das Fahrrad eine sehr viel größere Bedeutung als in kleineren Orten. Auf dem Land sind Erwerbstätige meist auf das Auto angewiesen.
Kanadische Verkehrsforscher sehen einen Zusammenhang zwischen dem genutzten Verkehrsmittel und der Zufriedenheit mit der eigenen Pendelsituation: Fußgänger, Radfahrer und Zugpendler seien zufriedener als Menschen, die das Auto, den Bus oder die U-Bahn nehmen, heißt es in der Studie der McGill University in Montreal.
Und Pendeln kann nicht nur unzufrieden, sondern richtig krank machen: Lärm und Enge in öffentlichen Verkehrsmitteln, Stau auf der Autobahn - all das sind Stressfaktoren für den Körper. Langes Sitzen kann zu Rückenschmerzen führen, im Winter steigt zudem das Risiko, sich im Nahverkehr mit einer Erkältung anzustecken.
Keine Entspannung in Sicht
Auch unsere Straßen- und Schienennetze werden durch die steigende Zahl von Pendlern stark beansprucht. Die großen Nahverkehrsunternehmen melden Jahr für Jahr Rekorde bei ihren Fahrgastzahlen. Die Stauzeiten in den Städten steigen, die durchschnittliche Geschwindigkeit der Autofahrer sinkt. Vielerorts stoßen die Verkehrsnetze an ihre Kapazitätsgrenzen.
Dass sich die Lage entspannt, ist kaum abzusehen. Über die vergangenen Jahrzehnte ist die Zahl der Berufspendler in Deutschland kontinuierlich gestiegen. In der wissenschaftlichen Definition pendeln jene Menschen, die auf ihrem Weg zur Arbeit die Ortsgrenze überschreiten. Das traf vor 20 Jahren noch auf 52 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten zu. Seither wächst der Anteil Jahr für Jahr ein bisschen, zuletzt betrug er 60 Prozent. Und das obwohl in der Zwischenzeit Hunderte Kommunen zusammengelegt wurden - das macht einen Arbeitsweg über Gemeindegrenzen hinweg eigentlich unüblicher.
Als Grund für die steigenden Pendlerzahlen nennt die Studie "Mobilität in Deutschland" den anhaltenden Trend zur Suburbanisierung. Gemeint ist der Wegzug von Menschen aus dem Kern einer Großstadt in die äußeren Bezirke oder ins Umland. Doch auch neu in eine Stadtregion ziehende Menschen erhöhen den Druck auf die Verkehrsnetze. Nicht selten zieht es sie nämlich nicht in die bereits teuren und umkämpften Innenstadtlagen, sondern in verkehrsgünstig gelegene Umlandstädte.
Städte haben große Anziehungskraft
Auch der Anteil der Fernpendler hat über die Jahre zugenommen. Die ICE-Sprinter verbinden deutsche Großstädte inzwischen auf elf Strecken miteinander. Und selbst das regelmäßige Fliegen von einem Ende der Republik ans andere ist durch Billig-Airlines erschwinglich geworden. In Berlin beispielsweise kommt jeder sechste Einpendler aus mehr als 100 Kilometer Entfernung.
Auf Strecken wie Hamburg-Köln oder Berlin-München sind auch viele Pendler unterwegs, die nicht täglich, sondern etwa nur wöchentlich hin- und herfahren. Wie viele genau, lässt sich bislang aber nicht sagen: Die Häufigkeit gehört zu jenen Aspekten des Pendelns, über die die Raum- und Verkehrsforschung bislang nur wenig weiß.
Wissenslücken auf diesem Gebiet bedeuten auch: Entscheidungsträgern in Politik und Verwaltung fehlt die Datengrundlage, um Problemen und Risiken des Pendelns adäquat begegnen zu können.
Mit den oben beantworteten Fragen helfen Sie der Wissenschaft, das Phänomen Pendeln besser zu verstehen. Der SPIEGEL arbeitet hierfür mit Forschern der TU Dortmund zusammen. Um ein noch besseres Bild zu bekommen, würden wir uns freuen, wenn Sie sich kurz Zeit nehmen, um auch die nachfolgenden Fragen zu beantworten.
Finden Sie hier all unsere Artikel und Videos zum Thema Pendeln.
Woher stammen die Daten?
Die Bundesagentur für Arbeit erhebt für alle rund 32 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland Angaben zum Wohn- und Arbeitsort. Aus diesen Daten leiten sich die Pendelbeziehungen zwischen den deutschen Kommunen ab. Die Arbeitsagentur veröffentlicht diese Daten in aggregierter Form auf Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte. Gegen Bezahlung bietet sie die Daten auch in der höchsten Auflösung an, der Gemeindeebene. Erst auf dieser Ebene lassen sich Pendlerströme auch innerhalb eines Landkreises nachvollziehen. Der SPIEGEL hat diese Daten gekauft und aufbereitet. Sie stellen eine Momentaufnahme zum Stichtag 30. Juni 2017 dar.
Der verwendete Datensatz kommt mit verschiedenen Einschränkungen. So finden Selbstständige, geringfügig Beschäftigte, aber auch Schüler und Studenten in der Erhebung der Arbeitsagentur keine Berücksichtigung. Zu Verzerrungen können auch die verschiedenen Gemeindegrößen in Deutschland führen: So sind etwa Gemeinden in Rheinland-Pfalz sehr viel kleiner als jene in Nordrhein-Westfalen, wodurch das Überschreiten einer Ortsgrenze auf dem Arbeitsweg wahrscheinlicher wird. Und wer am einen Ende einer Großstadt wohnt und am anderen Ende arbeitet, fährt vielleicht eine Dreiviertel Stunde, wird aber statistisch nur als Binnenpendler erfasst. Außerdem hält die Arbeitsagentur besonders kleine Fallzahlen geheim, um keine Rückschlüsse auf einzelne Personen oder Unternehmen zuzulassen - daher ist für manche Wohnorte keine persönlich zugeschnittene Erzählung möglich.
Die Diagramme zu Zeitaufwand und Verkehrsmitteln basieren auf Daten des Statistischen Bundesamts. Sie stammen aus dem Mikrozensus 2016 und repräsentatieren alle Erwerbstätigen, die zum Arbeiten das Haus verlassen. Die Daten beschränken sich an dieser Stelle also weder auf sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, noch auf Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit die Gemeindegrenze ihres Wohnorts überschreiten. Für die Berechnung der Anteile wurden nur gültige Angaben berücksichtigt.
IMPRESSUM
VON: Christina Elmer, Marcel Pauly, Patrick Stotz und Achim Tack
MITARBEIT: Viejän Fien, Michael Hinze, Frank Kalinowski, Chris Kurt, Michael Walter
WISSENSCHAFTLICHE BERATUNG: Prof. Dr.-Ing. Christian Holz-Rau (TU Dortmund)
© SPIEGEL ONLINE - 08.03.2018