Der Zukunftszug

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Die meisten Metropolen südlich der Sahara haben einen Konstruktionsfehler:

Es gibt dort kaum öffentliche Verkehrsmittel.
Der Mangel an Mobilität hat laut einer Analyse der Weltbank verheerende Folgen: Er hemmt das wirtschaftliche Wachstum von Afrikas Städten. Gleichzeitig wird sich deren Bevölkerung bis 2040 verdoppeln - auf rund eine Milliarde Menschen.

Wenn nicht bald etwas geschieht, droht Afrikas Städten der Kollaps.
In Äthiopien versucht man sich gerade an einer Lösung.
Als Äthiopiens Hauptstadt ihre brandneue elektrische Straßenbahn einweihte, feierten die Bürger ein großes Fest mit viel Musik und Tanz. An den Haltestellen bildeten sich lange Schlangen. Viele der rund vier Millionen Einwohner von Addis Abeba wollten die Tram ausprobieren.
Bei der Stadtverwaltung indes war die Stimmung angespannt. In nur drei Jahren hatte sie eine völlig neue Infrastruktur in Addis Abeba geschaffen. Ein 475 Millionen Dollar teures System, von dem in Äthiopien bislang niemand so richtig Ahnung hatte. Konnte es den hohen Erwartungen gerecht werden?
Die Äthiopier hatten sich für ihren Zukunftszug hoch verschuldet. Die chinesische Export-Import-Bank hatte 85 Prozent der Projektkosten mit einem günstigen Kredit finanziert. Chinesische Staatsfirmen hatten die Züge geliefert und den Bau der Gleise koordiniert.
Die Tram war ein ebenso teures wie riskantes Experiment. Ein solches war allerdings auch nötig. Denn die mangelnde Mobilität hatte in Addis Abeba zu einer verheerenden Kettenreaktion geführt.
In den Büros der städtischen Tram-Gesellschaft stehen meist zwei Schreibtische nebeneinander. Der eine gehört einem äthiopischen Angestellten, der andere seinem chinesischen Double.

Alle wichtigen Funktionen im Unternehmen, vom Tramfahrer bis zum Geschäftsführer, sind in den ersten drei Jahren doppelt besetzt. So haben die noch unerfahrenen Äthiopier bei Problemen immer einen Ansprechpartner.

Der Wissenstransfer kostet den Staat noch einmal 300 Millionen Dollar.
Die Angestellten der Tram-Gesellschaft sind von den Chinesen genervt. "Wir versuchen, sie möglichst schnell loszuwerden", erzählt einer. Das aber dürfte gar nicht so einfach werden.

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370 Leute passen offiziell in eine Tram. In Wahrheit quetschen sich oft bis zu 500 Menschen hinein, erzählt der Leiter der Schaltzentrale. Insgesamt fahren jeden Tag bis zu 150.000 Menschen mit der Straßenbahn. Der Betrieb ist oft entsprechend chaotisch.
Die große Nachfrage kommt nicht von ungefähr. Die Stadt hat das Tramfahren sehr günstig gemacht: Das billigste Ticket kostet zwei äthiopische Birr, umgerechnet sechs Cent. Das kann sich selbst ein einfacher Arbeiter leisten. Mit der Tram fahren aber auch viele Leute aus der Mittelklasse, allen voran Pendler.
Nach Angaben der städtischen Tram-Gesellschaft hat sich die Mobilität in der Stadt gleich doppelt verbessert: Die Bürger bewegen sich demnach jetzt öfter durch die Stadt als früher. Und sie legen größere Strecken zurück.
Wie genau das den Arbeitsmarkt verändert, ist offiziell noch nicht erhoben worden. Dass es ihn verändert, ist nicht zu übersehen. Man muss nur mit der Straßenbahn fahren und mit den Leuten reden.

Adisu Olana, Bankerin:

"Früher stand ich bis zu fünf Stunden täglich im Stau. Heute schaffe ich meinen Arbeitsweg in einer Stunde."


Raya, Kundenbetreuer:

"Ohne die Tram könnte ich den weiten Anfahrtsweg zu meinem Job nicht bezahlen."


Rayas Chef:

"Meine Angestellten kommen jetzt meistens pünktlich."


Fantaye Habte, 65:

"Ich kann meine Familie jetzt öfter sehen."


Endale Bogate:

"Die überfüllten Waggons sind eine Qual. Wenn ich aussteige, bin ich oft komplett durchgeschwitzt."


Tesgaye Chome:

"Die Stadt sollte mehr Haltestellen bauen. Ich muss erst lange mit dem Minibus fahren, um von meinem Haus zu einer zu gelangen."


Während sich die Pendler über bessere Jobperspektiven freuen, kommen die Mechaniker der staatlichen Tram-Gesellschaft gehörig ins Schwitzen.
Im Depot sind gerade ein Drittel der Züge zur Reparatur geparkt. Wegen der hohen Auslastung gehen vor allem die Räder rasch kaputt. Nicht immer können die Mechaniker sie vor Ort reparieren, zurzeit fehlen ihnen dafür noch die nötigen Maschinen.
Ganze Züge fallen wochenlang aus, weil ihre Gestelle zur Reparatur nach China geschickt werden müssen. Das erhöht die Überlastung der anderen Bahnen auf der Strecke - und damit wiederum den Verschleiß.
Die defekten Räder sind nur eines von vielen Problemen, die die Tram-Gesellschaft plagen. "Ich schätze, wir werden die Chinesen noch lange brauchen", sagt ein Mechaniker. Die Äthiopier werden ihre Doppelgänger wohl doch nicht so schnell los, wie sie es sich wünschen.
Die neue Tram hat nicht nur Auswirkungen auf die Pendler. Sie verändert die gesamte Stadt. Die Verwaltung von Addis Abeba strukturiert entlang ihrer Trassen ganze Viertel um. Am Megenagna-Platz, einem zentralen Knotenpunkt von Addis Abeba, wird das Ausmaß der Veränderung besonders deutlich.
Vor vier Jahren eröffnete neben der Tramstation das Zefmesh, ein dreistöckiges Luxuskaufhaus für Addis Abebas wachsende Oberklasse. Die Regierung streckte 50 Prozent der Baukosten zu günstigen Zinsen vor.
Die Investition lohnt sich schon jetzt. Laut Wubshet Abrera, 29, dem Generalmanager des Gebäudes, legt der Gewinn jährlich um bis zu 15 Prozent zu, der Umsatz gar um ein Drittel.
Das Zefmesh ist nur eines von Hunderten Hochhäusern, die um den Megenagna-Platz errichtet werden. In den Straßen rund um die Tramstation sollen noch viele weitere Büros und Geschäfte entstehen.
Die gute Verkehrsanbindung wertet das gesamte Viertel auf. Und die Stadt verstärkt diese Entwicklung gezielt mit günstigen Immobilienkrediten.
Das Nachsehen haben die Geschäfte. Seifu Tesfaye, der am Platz Elektrogeräte repariert, wurde die Monatsmiete kürzlich von 5000 auf 13.000 Birr, knapp 400 Euro, erhöht.
Kidane Asgedom muss seinen Handyshop demnächst ganz schließen. Er würde den Laden gerne in einem anderen Viertel neu eröffnen. Doch er fürchtet, dass ihn auch dort bald der Fortschritt überrollt.
Am heftigsten trifft der Wandel die Bewohner der Slums. Durch den Bau der Tram und die Aufwertung der umliegenden Viertel sind schon jetzt Zehntausende Menschen aus ihren Behausungen im Zentrum vertrieben worden.

Eine von ihnen ist Elani Yilma.
Am Stadtrand von Addis Abeba erstreckt sich ein weitläufiges Areal von Hunderten gleichförmigen Hochhäuserblöcken. Mittendrin, in einer kleinen Einzimmerwohnung, wohnen Yilma und ihre vier Kinder.

Die alleinerziehende Mutter heißt eigentlich anders. Aus Angst vor Repressionen bittet sie darum, weder ihren richtigen Namen noch Bilder von sich oder ihren Kindern zu veröffentlichen.
Yilma sagt, sie habe zuvor im Stadtzentrum gelebt. Als am Mexico-Platz eine der wichtigsten Tramstationen eröffnete, wurden die umliegenden Slums abgerissen, darunter auch ihr Haus. Vor rund einem Jahr habe die Regierung sie gezwungen, in die Retortensiedlung zu ziehen.
Laut einer Untersuchung von Uno-Habitat, dem Wohn- und Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen, wurden zwischen 2009 und 2015 mehr als 23.000 Slum-Häuser zerstört. Bis 2020 soll noch einmal Slum-Land in der Größe von 504 Fußballfeldern neu bebaut werden. Die Bewohner der Armenviertel werden meist an den Stadtrand verfrachtet. Viele verlieren dadurch ihre Arbeit und den Großteil ihres Besitzes.
Hinter der Umstrukturierung steckt eine politische Strategie, die Ökonomen als Entwicklungsdiktatur bezeichnen. Der äthiopische Staat ordnet seinem wirtschaftlichen Vorankommen alles unter - auch Menschenrechte und soziale Fürsorge.

Elani Yilma sagt, dass sie seit ihrer Umsiedlung arbeitslos sei. Ihren alten Job im Zentrum könne sie nicht mehr erreichen. Die Fahrt mit dem Minibus wäre teurer als ihr Tageslohn. Und die nächste Tramstation ist viel zu weit weg.
Was Äthiopiens Hauptstadt in wenigen Jahren auf die Beine gestellt hat, ist ebenso beachtlich wie bedenklich.
Beachtlich ist, wie schnell die Stadt eine völlig neue Infrastruktur aus dem Boden gestampft hat - und wie diese das Wachstum beflügelt.
Bedenklich ist die Rücksichtslosigkeit, mit der der Staat alles aus dem Weg räumt, das den Fortschritt behindert. Bereits jetzt wurden viele Zehntausende Menschen aus dem Zentrum an den Stadtrand gebracht und dort weitgehend sich selbst überlassen.

Viele weitere können sich in den betroffenen Gebieten bald kein Zuhause mehr leisten. Die Mieten für Wohnhäuser sind zwischen 2012 und 2016 im Schnitt um 61 Prozent gestiegen, in manchen Vierteln entlang der Tram gar um 100 Prozent.

Die Verlierer des Wandels sollten dringend besser versorgt werden.
Insgesamt aber zeigt sich: Mobilität kann durchaus ein Schlüssel für mehr Wohlstand sein - auch in anderen Ländern südlich der Sahara. Die betroffenen Städte brauchen dafür allerdings Geld und Know-how aus dem Ausland.
In Addis Abeba haben die Chinesen den Zuschlag erhalten. Deutsche Firmen sollten sich das Tram-Projekt vielleicht einmal genauer ansehen. In der Mobilmachung eines halben Kontinents steckt schließlich auch für sie ein lukrativer Zukunftsmarkt.

Impressum




Diese Reportage ist Teil des Projekts Expedition #ÜberMorgen

Autoren: Bernhard Riedmann, Stefan Schultz

Redaktion: Yasmin El Sharif, Jens Radü

Fotos: Bernhard Riedmann, Stefan Schultz

Videos: Bernhard Riedmann

Animation: Arne Kulf

Mood-Videos: Lorenz Kiefer, Saka Tourè

360-Grad-Videos: Bernhard Riedmann

Highcharts: Chris Kurt

Bildredaktion: Nasser Manouchehri

Dokumentation: Mara Küpper

Schlussredaktion: Bastian Bredtmann

Programmierung: Chris Kurt


Zusätzliches Videomaterial: Stadt Addis Abeba

Zusätzliche Fotos: dpa, Getty Images, Google Earth, Imago/Chromorange, Imago/photothek


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