Es ist wie in einer anderen Welt. Nur wenige Minuten Fußweg trennen den eingezäunten Apartmentkomplex im Zentrum Denvers von Hochglanzboutiquen und Edelrestaurants, doch von Wohlstand ist hier nichts mehr zu spüren. In unmittelbarer Nähe campieren Obdachlose, auf dem Parkplatz rauchen Menschen Crack.
Vor dem Hauseingang geht es in der Mittagshitze gesellig zu. Ein dunkelhäutiger Mann läuft am Zaun auf und ab und sucht Kontakt zu den Bewohnern. Zwei jüngere schleppen Möbel in das Nachbarhaus. Man spricht miteinander, man kennt sich. Nur der grauhaarige ältere Herr, der um kurz vor 16 Uhr mit einer Einkaufstüte voller Gemüse auf das Tor zuläuft, passt nicht ins Bild. Die Nachbarn würdigt er keines Blickes, grußlos verschwindet er in seiner Wohnung.
Warum sich der 66-Jährige von der Außenwelt abschottet, versteht man, wenn man die Fotos aus seiner Wohnung kennt. Man versteht es sogar noch besser, wenn man über seine Vergangenheit Bescheid weiß.
James Mason in seiner Wohnung in Denver
James Nolan Mason war schon als Jugendlicher extrem. Mit 14 tritt er der American Nazi Party von George Lincoln Rockwell bei, in den Siebzigerjahren engagiert er sich bei der National Socialist Liberation Front. Er sitzt mehrfach im Gefängnis. Einmal, weil er zusammen mit einem Mittäter eine Gruppe dunkelhäutiger Männer angreift. Ein anderes Mal wird er wegen Kindesmissbrauchs angeklagt. Bei einer Hausdurchsuchung findet die Polizei Nacktfotos von einem 15-jährigen Mädchen sowie Hakenkreuzfahnen und Bilder von Hitler und Goebbels.
In den Achtzigerjahren beschließt Mason, seine Gewalt- und Machtfantasien in einem Buch niederzuschreiben. Er nennt es »Siege« (dt. Belagerung). In der bizarren Newslettersammlung, die in Zusammenarbeit mit Sektenführer Charles Manson entsteht, leugnet er nicht nur den Holocaust und hetzt gegen Juden und Homosexuelle. Er ruft zur Bildung dezentraler Terrorzellen auf, zum bewaffneten Kampf gegen das System. Masons Ziel ist es, seine menschenverachtende Weltanschauung an kommende Generationen weiterzugeben. Lange Zeit bleibt er damit erfolglos. Das ändert sich 2015.
James Mason und die »Atomwaffen Division«
Propaganda-Fotos der »Atomwaffen«-Zelle, Texas
In jenem Jahr gründet sich die Nazi-Gruppierung »Atomwaffen Division« im Internetforum »Ironmarch.org«, einer Plattform, auf der sich Rechtsradikale aus aller Welt austauschen. Die Extremisten entdecken James Mason für sich. Sie nehmen sein wirres, radikales Gedankengut immer euphorischer auf, »Siege« wird zur Pflichtlektüre, Mason ihr ideologischer Übervater. Doch nicht nur das macht die Gruppe laut Terrorismusexperten so gefährlich. Die Mitglieder sind schwer bewaffnet und bereit, ihre Waffen einzusetzen. In sogenannten »Hate Camps« bereiten sie sich auf einen »Rassenkrieg« vor, der ihrer Ansicht nach kurz bevorsteht. Unter den Teilnehmern sind auch US-Soldaten, die Schießübungen anleiten. Laut Aussage eines »Atomwaffen«-Aussteigers müssen Neulinge unter anderem Waterboarding über sich ergehen lassen. Wer steckt hinter der »Atomwaffen Division«?
Der erste Mord ereignet sich am 19. Mai 2017. Devon Arthurs, 18 Jahre alt, erschießt seine beiden Mitbewohner Andrew Oneschuk (18) und Jeremy Himmelman (22), alle drei waren Mitglieder von »Atomwaffen Division«. Als Motiv gibt Arthurs später an, die beiden Männer hätten seinen Glauben nicht respektiert. Arthurs entfremdete sich nach und nach von der rechtsextremen Ideologie der Gruppe, konvertierte zum Islam und sympathisierte mit dem »Islamischen Staat«.
Mörder Arthurs (links), Opfer Oneschuk und Himmelman (rechts)
In der WG wohnte auch der Anführer der Truppe: Brandon Russell. In dessen Garage findet die Polizei Schusswaffen, Munition und Materialien zum Bombenbau. Russell hatte zuvor in internen Chats angekündigt, ein Kraftwerk in die Luft sprengen zu wollen. Er wird zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.
Das Morden geht weiter
Am 22. Dezember 2017 erschießt der 17-jährige Nicholas Giampa die Eltern seiner Freundin in Reston, Virginia. Sie hatten der Tochter den Umgang mit ihm verboten, da sie dessen rechtsradikale Gesinnung ablehnten. Giampa ist erklärter James-Mason-Fan und »Atomwaffen Division«-Mitglied. Noch am Tatort richtet er die Waffe gegen sich selbst und drückt ab, überlebt aber.
Todesschütze Giampa
Nicht einmal einen Monat später ereignet sich der jüngste Mord. Die Ermittlungen in dem Fall laufen noch. Der SPIEGEL konnte mit Polizeibehörden und der Mutter des Opfers vor Ort sprechen sowie private Chatnachrichten zwischen dem Ermordeten und Freunden einsehen. So lässt sich der Fall detailliert rekonstruieren. Was geschah in Lake Forest, Kalifornien?
Als die restlichen »Atomwaffen«-Mitglieder erfahren, dass Woodward wegen des Mordes an einem homosexuellen Juden festgenommen wurde, feiern sie die Tat. Sie nennen ihn eine »Ein-Mann-Abrisstruppe für schwule Juden«. Zu Prozessbeginn erstellen sie T-Shirts mit Woodwards Konterfei, samt Hakenkreuz auf der Stirn.
»Atomwaffen Division« sind keine Internet-Trolle, die herabwürdigende Grafiken flächendeckend über das Netz verbreiten. Ihre Propaganda teilen die Mitglieder in der eigenen Social-Media-Blase und geheimen Kommunikationsforen. Der SPIEGEL hat exklusiv Einblick in interne Chats der Gruppe erhalten.
»Atomwaffen« intern
Was darin schnell klar wird: »Atomwaffen« hetzen nicht nur gegen Juden, Homosexuelle und Schwarze. Sie glorifizieren rechtsextreme Terroristen und Massenmörder wie Timothy McVeigh, Dylann Roof und den Norweger Anders Breivik.
Brief von Theodore Kaczynski
Mit Theodore Kaczynski, dem inhaftierten Unabomber, stehen sie in Briefkontakt. Sie haben einen Chatkanal eingerichtet, auf dem sie untereinander diskutieren, welche Fragen sie dem dreifachen Mörder als nächstes stellen werden.
Zwischen Diskussionen über ihre Idole, Nationalsozialismus und Ego-Shooter fallen aber auch Sätze wie: »Zerbombt euer lokales Flüchtlingszentrum«, »Polizeistationen zu bombardieren, ist eine Form des künstlerischen Ausdrucks« oder »Ich will ein Regierungsgebäude in die Luft jagen«.
Anleitungen zum Bombenbau
Wie weit manche Internetprotzereien von konkreten Taten entfernt sind, lässt sich schwer einschätzen: Die Mitglieder teilen Links zu Archiven mit Hunderten Schriftstücken, die auf den bewaffneten Kampf und Terrorangriffe vorbereiten. Darunter sind Handbücher, die detailliert beschreiben, wie man Anschläge auf Kraftwerke, Stromnetze und Autobahnbrücken durchführt. Es finden sich Dutzende Anleitungen zum Eigenbau von Rohr-, Auto- und Nagelbomben. Erläuterungen, wie man hochpotente Explosionsstoffe aus Haushaltmitteln herstellt oder Zeitzünder baut, liegen gleich daneben.
Mehr als nur rechts
»Atomwaffen« verherrlichen nicht nur rechten Terror, ihre Chatnachrichten vermitteln ein wirres Bild. Die Mitglieder posten Fotos geköpfter oder ermordeter Menschen. Sie teilen Hinrichtungsvideos vom »Islamischen Staat« und extremistische Auslegungen von Koran-Versen. Schulattentate wie an der Columbine Highschool nennen sie einen »perfekten Akt der Revolte«.
Die Gruppe gibt sich zudem äußerst frauenfeindlich. Die Mitglieder bezeichnen Frauen als »egoistische Soziopathen ohne Wert«, als »Schlampen« und »Eigentum«. Jeder sexuelle Missbrauch sei »gerechtfertigt«, schreibt einer. »Ich würde es nicht mal Vergewaltigung nennen«, ein anderer. Auch Pädophilie ist kein Tabu. »Wenn sie blutet, kann sie gebären« und »Geburt ist Einwilligung« sind nur einige vieler Zitat-Beispiele.
Vom Nationalsozialismus über Kindesmissbrauch bis zum IS: Wie passt das alles zusammen?
Das Hass-Netzwerk
Irgendwann reicht es den Mitgliedern von »Atomwaffen« nicht mehr, »Siege« nur zu lesen, sie wollen den Verfasser persönlich treffen. Nach angeblich jahrelanger Suche finden sie 2017 den untergetauchten James Mason. Es entsteht eine Freundschaft und eine Geschäftsbeziehung. Der Mann, der die halbwegs erfolgreiche Phase seiner Nazikarriere eigentlich schon hinter sich hatte und in der absoluten Bedeutungslosigkeit zu versinken drohte, soll von den Jung-Nazis ins digitale Zeitalter gebracht werden. Masons angestaubte Nazipropaganda erscheint unter dem Label »Siege Culture« in neuem Gewand. Auf einer Internetseite veröffentlichen »Atomwaffen« fortan seine Artikel und nehmen Podcasts mit ihm auf. Im Mittelpunkt von »Siege Culture« stehen aber Masons Bücher. Die Rechte an den Werken liegen laut eigener Aussage nun bei John Cameron Denton, dem Wortführer von »Atomwaffen«.
Denton: »James Mason hat uns die Fackel übergeben.«
Mason mit »Atomwaffen«-Mitgliedern (links), Denton zu Besuch bei Mason (rechts)
Mitglieder von »Atomwaffen Division« übernehmen Layout, Promotion und Vertrieb. Fünf Bücher sind bereits erhältlich. Darunter eine Neuauflage von »Siege« und eine noch bizarrere Schriftsammlung, in der Mason Adolf Hitler und Charles Manson als die Reinkarnation von Jesus Christus bezeichnet. Sieben weitere Bücher sind in Planung. Gedruckt und vertrieben werden sie über Amazons Self-Publishing-Plattform »CreateSpace«.
Der Mann, zu dem junge Nazis pilgern, schlurft an einem Sonntagmorgen um 8 Uhr 25 die East Colfax Avenue in Denver entlang. An dem Park mit den vielen Obdachlosen vorbei, die Straße hinunter bis zur Bushaltestelle, wo er abseits der anderen Menschen wartet. Er scheint gut gelaunt. Was geht in diesem Kopf vor? Was hat dieser Mann zu so viel Gewalt und Hass zu sagen? James Mason spricht nicht mit Journalisten, er lebt schon seit mehr als zehn Jahren im Verborgenen. Mit einem interessierten Touristen aus Deutschland spricht er aber gern. Ein Interview mit versteckter Kamera:
Für »Atomwaffen« bedeutet die Kooperation mit James Mason vor allem Anerkennung innerhalb der Szene. Sie hilft der Gruppe, gewaltbereite Jugendliche einzufangen, und das mittlerweile nicht mehr nur in den USA. Der Kult um Masons »Siege« hat ein weltweites Netzwerk aus Fanatikern hervorgebracht. Bei manchen beschränkt sich der Kontakt auf das Internet, andere reisen um die Welt, um ihre Kameraden zu treffen. Im Ausland entstehen sogar neue »Atomwaffen Divisionen«. Eine Auswahl:
»Atomwaffen Division« dient als Durchlauferhitzer für gewaltbereite Männer weltweit und James Mason ist ihr Feuer. Seine Jünger fördern menschenverachtende Ansichten und wollen so extrem sein, wie es geht. Rhetorisch haben die Nazis bereits eine hohe Eskalationsstufe erreicht. Eine Steigerungsform, die ihnen noch bleibt, ist die Tat.
»Viele von euch müssen ihren existenziellen Einsatz für die Rassentrennung erhöhen«, schreibt ein Mitglied namens »Groz« Ende Juli 2018 in den Chat. »Das Internet kann euch nur Tipps geben, keine Erfahrung.«
Die Visual Story "Das Hass-Netzwerk" wurde mit dem Rias Award in der Kategorie "Digital Media" ausgezeichnet. Die Autoren Alexander Epp, Roman Höfner und Roman Lehberger zeichnen nach, wie sich eine Gruppe von militanten Rechtsextremen in den USA im Untergrund formiert, Anschläge und Morde plant und ausführt und sich global verbreitet. Aus der Begründung der Jury: "Der packende Bericht über die fanatischen rechtsradikalen Gruppen wird durch die innovative Nutzung digitaler Medien erzählt und setzt damit Maßstäbe des Online-Storytellings".
Sehen Sie hier einen SPIEGEL TV Film über die "Atomwaffen-Division"
Autoren, Kamera, SchnittAlexander Epp, Roman Höfner
MitarbeitRoman Lehberger
Animation, GrafikMax Heber
LayoutElsa Hundertmark, Lorenz Kiefer
ProgrammierungChris Kurt, Lorenz Kiefer
SchlussredaktionKatrin Zabel
DokumentationClaudia Niesen
RedaktionJens Radü
LuftaufnahmenGoogle Earth, Data SIO, NOAA, U.S. Navy, NGA, GEBCO, Landsat / Copernicus, Data LDEO-Columbia, NSF